Die Kunst des richtigen Maßes. Johannes Huber
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Uraltes Wissen
Die Kunst des richtigen Maßes und wie wir mit ihr werden, was wir sein können, zieht sich als zentrales philosophisches, spirituelles und teilweise auch als pragmatisches lebensberatendes Thema durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Zu allen Zeiten haben sich Eliten und jene, die ihnen angehören wollten, ihrer bedient, um zu wachsen. Auch jetzt gerade tun sie es, wie das nächste Kapitel zeigen wird.
Das Silicon Valley ist eine unerschöpfliche Quelle des Übermaßes. Doch seine Macher lassen immer nur die anderen sich daran ergötzen. Sie selbst üben sich gerne im Verzicht, und sie wissen genau, warum.
In Raumschiff Erde gibt es auch eine Silizium-Abteilung. Dort sind die Zukunftsforscher am Werk. Silizium steht als Element der vierten Hauptgruppe im Periodensystem genau unterhalb des Kohlenstoffs. Diese Position ist interessant, zumal wir Menschen aus Kohlenstoff bestehen. Doch es existiert nicht nur die Kohlenstoff-Intelligenz, die wir Menschen haben, sondern gleich darunter, vielleicht auch parallel dazu oder sogar noch darüber, die silikale, die digitale Intelligenz, hervorgegangen aus Einsen und Nullen.
Am besten bleiben wir bei »noch darüber«, in Anbetracht dessen, was diese Intelligenz alles kann. Bots, also Computerprogramme, die weitgehend automatisch sich wiederholende Aufgaben abarbeiten, ohne dabei auf menschliche Benutzer angewiesen zu sein, sind uns in vielen Belangen bereits weit überlegen. Uns Ärzte fasziniert besonders, dass sie etwa Melanome besser diagnostizieren als jeder Dermatologe und für viele Erkrankungen selbständig qualifizierte Therapiepläne vorlegen. Bots helfen etwa auch mit, wenn sich Arbeitssuchende für einen Job bewerben. Sie wählen die richtigen Bewerber aus. Ihre Kriterien dabei bestehen aus tausenden festgelegten Parametern. Bauchgefühl ist ein Relikt aus alten Zeiten.
Künstliche Intelligenz kann präzise Auskunft darüber geben, wen wir heiraten sollen und wen nicht, und sie überlässt auch sonst nichts dem Zufall. In der immer größer werdenden Welt, die sie bestimmt, ist alles berechnet und kontrolliert. Die nächsten Generationen der Autos etwa werden von sich aus Verkehrssünden bemerken und verhindern, ehe wir sie begehen können.
Gleichzeitig hat die silikale Welt einen neuen Circus Maximus hervorgebracht, vergleichbar mit jenem im alten Rom. Auf dieser Schaubühne der Eitelkeiten können wir uns heute als Schauspieler darstellen und unser Wirken auf Knopfdruck der ganzen Welt zur Verfügung stellen. Das Amüsement ist gewaltig, der Mitteilungsdrang groß. Alle stülpen ihr Innerstes nach außen.
Allerdings kann, ganz wie in der Antike, die Stimmung kippen. Wenn viele Menschen virtuell beisammen sind, wird ein Gedanke rasch zum Virus. Alles geht dann unglaublich schnell. Heute noch ein Star, abends ein falsches Posting, und der Unflat des Hasses überschwappt den unbedachten Verfasser. Shitstorm ist, wenn das Stimmungsbarometer der Schwarmintelligenz ins Extreme kippt. Binnen Stunden ist der Held ein Monster. Alle fühlen sich bemüßigt, ihre Meinung in die Welt hinauszuschreien. Wut ist das neue Gut. Wahn verbreitet sich in Echtzeit.
Der digitale Circus Maximus, dem faszinierende und im Grunde außerordentlich wertvolle technische Fortschritte zugrunde liegen, ist zum Dauer-Amüsement einer Gesellschaft geworden, die die Unterhaltung in den Rang des Lebenssinns erhoben hat. Goethe scheint das vorausgeahnt zu haben, als er im Faust II10 schrieb:
Du hast, Geselle, nicht bedacht, wohin uns deine Künste führen. Erst haben wir ihn reich gemacht, nun sollen wir ihn amüsieren.
Goethe wollte nicht, dass sein Faust II zu seiner Lebenszeit veröffentlicht wird. Er enthielt viel Prophetisches über die Folgen der damaligen Politik und des damit verbundenen Lebensstils, und er befürchtete wohl, dass er sich so vom gefeierten Star zum Querulanten machen und ins Out manövrieren könnte. Unter anderem stellte er sich mit Sätzen wie dem zitierten gegen eine Gesellschaftsordnung, die Brot und Spiele als ewig funktionierendes Konzept neu etablierte. Eine Gesellschaftsordnung, die heute, rund 300 Jahre nach ihm, zu voller Blüte gelangt.
Auch jetzt bleiben die Kritiker recht stumm. Sie bieten nur ein sanftes Plätschern und sind selbst Teil dieser Ordnung. Sie sind Konsumenten und User der neuen Erfindungen für den Circus Maximus, von denen viele von zweifelhaftem Nutzen und manche von offensichtlichem Schaden sind, und die nur einem zentralen Prinzip folgen: Immer schneller müssen immer mehr dieser Erfindungen her. Welchem Prinzip diese Dynamik folgt, wusste schon der griechische Philosoph Epiktet, der von 50 bis 138 nach Christus lebte. Er schrieb11:
Bei jedem Menschen ist der Körper ein Maß für den Umfang seines materiellen Besitzes wie der Fuß für den Schuh. Wenn du dich von diesem Prinzip leiten lässt, dann wirst du das richtige Maß einhalten. Wenn du es aber überschreitest, dann wirst du eines Tages unweigerlich in den Abgrund stürzen. Es ist wie beim Schuh: Wenn du einmal den Fuß als natürliches Maß überschritten hast, dann bekommst du zuerst einen vergoldeten, dann einen purpurnen und schließlich einen gestickten Schuh. Denn wenn du erst einmal das Maß überschritten hast, dann gibt es keine Grenze mehr.
Eine Dynamik, bei der wir allmählich verblöden. Der Dalai Lama formulierte diesen Umstand, wesentlich feiner, so:
Loslassen vom Überschuss ist das Herz geistigen Wachstums.12
Doch wo in der silikalen Welt spielt dieses Loslassen, dieser Wunsch nach geistigem Wachstum noch eine Rolle? Spielt er dort überhaupt noch eine Rolle?
Ja, das tut er, nur weniger bei den Usern und Konsumenten der silikalen Welt. Er tut es eher bei ihren Schöpfern. Mark Zuckerberg zum Beispiel stülpt auf Facebook sein Innerstes keineswegs nach außen und behält lieber für sich, was er vielleicht gerne manchmal einfach so in die Welt hinausschreien würde.
Er ist nicht der einzige silikale Vordenker, der sich im richtigen Maß übt. Er ist nicht der einzige Gestalter des silikalen Circus Maximus, der das Treiben dort von außen beobachtet und dafür sorgt, dass immer nur die anderen darin aufgehen. Er ist nicht der einzige Macher der Zukunft, der selbst unaufhörlich versucht, zu werden, was er sein kann, und der weiß, dass der Weg dorthin über den Verzicht führt.
Jack Dorsey und sein kühles Morgenritual
Sehen wir uns Jack Dorsey an, den Gründer des Nachrichtendienstes Twitter. Dorsey wuchs in Saint Louis auf, am Westufer des Mississippi. Als Jugendlicher hörte er den Polizeifunk ab und war fasziniert von den Kurznachrichten, in denen so viel Wahrheit und Information steckte. Er wünschte sich einen Computer und fing zu programmieren an, weil er bildlich darstellen wollte, was bei diesen Polizeieinsätzen passierte. 2006 war Dorsey CEO von Twitter. Drei Jahre später erfand er den mobilen Bezahldienst Square. Heute wird sein Vermögen auf 11,5 Milliarden Dollar (Stand: April 2021) geschätzt.
Jack Dorsey ist ein schönes Beispiel für das Diametrale der silikalen Welt. Auf der einen Seite hat er einen Teil des Grundbestecks für die Maßlosigkeit der Kommunikation geschaffen, im eigenen Leben jedoch würde er sich weder am digitalen noch am analogen Konsumrausch je beteiligen. Vielmehr praktiziert der Mann den gelebten Verzicht. Er ist überzeugter Asket. Dorsey verzichtet