Der gläserne Fluch. Thomas Thiemeyer

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Der gläserne Fluch - Thomas Thiemeyer Die Chroniken der Weltensucher

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stünde er unter Strom. »Kalt!«, schrie er und versuchte aufzustehen, doch Humboldt hielt ihn zurück. Einige der Gäste, die gerade zurück ins Haus drängten, schrien erschrocken auf, als Humboldt und Bellheim zwischen sie stürzten. Erst jetzt bemerkten sie, dass dort ein tödlicher Kampf im Gang war und dass dieser immer noch andauerte.

      Atemlos verfolgten die Gäste das zähe Ringen der beiden Gegner. Gertrud Bellheim war die Einzige, die in dem Durcheinander die Nerven behielt. Entschlossen stürmte sie herbei und drang auf die Kontrahenten ein. »Humboldt, Richard, auseinander! Sofort! Was ist nur in euch gefahren? Auseinander mit euch!«

      Als Worte nichts halfen, schrie sie: »Ungeheuerlich! Und das am Silvesterabend! Bertram, trennen Sie die Streithähne, aber schnell!«

      Der Diener beeilte sich, dem Befehl seiner Herrin nachzukommen, als plötzlich und unerwartet die Kirchenglocken zu läuten anfingen.

      In Deutschland war erst seit Kurzem eine einheitliche Zeitrechnung eingeführt worden, daher hatten an diesem Silvesterabend zum ersten Mal alle Kirchenglocken gleichzeitig um Punkt 24 Uhr geläutet. Nur die Schwestern vom Heiligen Blute Jesu in ihrer nahe gelegenen Klosterkirche hatten zunächst im Gebet verharrt und ließen ihre Kirchenglocke erst jetzt das neue Jahr begrüßen. Das Läuten klang, als würde es direkt aus der Nachbarschaft kommen. Laut und dröhnend hallte es zwischen den Hauswänden wider. Die Reaktion war überraschend. Wie von einer ungeheuren Kraft bewegt, flog Humboldt mehrere Meter durch die Luft und landete in einer Schneewehe. Atemlos und am Ende seiner Kräfte blieb er liegen. Bellheim hingegen gebärdete sich, als wäre der Teufel in ihn gefahren. Er presste die Hände auf die Ohren und zappelte und schrie, dass die Anwesenden vorsichtshalber einige Meter zurückwichen. Und dann veränderte er sich. Er schrumpfte, wurde kleiner und löste sich schließlich auf. Immer kleiner wurde er, bis schließlich nichts mehr von ihm übrig war.

      Ungläubiges Schweigen breitete sich aus. Niemand hatte eine Erklärung für das, was soeben geschehen war. Humboldt stand auf, klopfte den Schnee von seinem Mantel und trat zu den anderen. Die Anwesenden bildeten einen Kreis um die Kampfzone. Alle schienen zu warteten, dass Bellheim wieder auftauchen möge. Doch nichts geschah. Von dem Völkerkundler fehlte jede Spur. Weder das verzweifelte Schluchzen seiner Frau noch die erregten Rufe der Gäste konnten daran etwas ändern. Irgendwann erschien die Gendarmerie und dehnte die Suche auf die umliegende Nachbarschaft aus. Doch was immer sie taten, es blieb ohne Ergebnis.

      Richard Bellheim blieb verschwunden. Allen, die ihn an diesem Neujahrsmorgen des Jahres 1894 zum letzten Mal sahen, war klar, dass er nie zurückkehren würde.

      Teil 2

      Inseln über der Zeit

      13

      London, eine Woche später …

      Der Royal Musketeers Fencing Club war einer der ältesten Fechtclubs Londons. Ein Traditionsverein, der zu Zeiten von Lord Nelson und seinem legendären Sieg bei Trafalgar gegründet worden war und der den Ruf genoss, in seinen Kampfregeln genauso streng zu sein wie in der Auswahl seiner Mitglieder. Hier aufgenommen zu werden, setzte voraus, dass man über Verbindungen zu den höchsten Ebenen verfügte und im näheren Umfeld zur Queen stand. Ein Club für Mitglieder der Upperclass und solche, die es werden wollten.

      Das runde Ziegelgebäude mit seiner goldenen Kuppel und seinem Umgang aus weißen Säulen grenzte direkt an die Themse unweit der Westminster-Kathedrale. Efeu umrankte die Säulen und die angrenzenden Platanen warfen lange Schatten. Das Rasseln von Klingen drang aus dem Inneren.

      Max Pepper hatte Degen und Säbeln noch nie etwas abgewinnen können. Nicht, dass er den Umgang damit nicht beherrschte, er konnte Waffen nur generell nicht leiden. Er hielt sie für Standesmerkmale spätpubertierender Muttersöhnchen. Wer es für nötig hielt, anderen mit der Länge oder Größe seiner Waffe zu imponieren, dem hatte der liebe Gott entweder zu wenig Selbstvertrauen oder zu wenig Grips geschenkt. In den meisten Fällen eine Kombination aus beidem.

      Er selbst sah sich als Mann des Geistes, der in der Lage sein sollte, jede Situation Kraft seines Verstandes zu meistern. Was nicht hieß, dass er ein wehrloses Opfer war. In der Stadt der Regenfresser hatte er seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Aber er empfand keine Liebe zum Töten.

      »Lord Wilson macht um diese Uhrzeit immer seine Waffenrunden.«

      Patrick O’Neill war ein sympathischer Rotschopf von der Grünen Insel, der viel redete und eine Menge Lachfältchen um die Augen hatte. So schlimm konnte Sir Wilson eigentlich nicht sein, wenn er einen solchen Mann an seiner Seite duldete. Andererseits … man sollte nie den Tag vor dem Abend loben.

      Wie recht er mit seiner Skepsis hatte, zeigte sich, als O’Neill die beiden in die Umkleidekabinen führte und sie bat, ihre Sachen auszuziehen.

      »Wir sollen was?« Pepper schaute auf O’Neill, der bereits in Unterhosen vor ihm stand.

      »Sie müssen sich ausziehen und Trainingskleidung anlegen. Die Statuten des Clubs sind sehr streng«, erläuterte Sir Wilsons Assistent. »Keine Waffenkleidung, kein Eintritt.«

      »Dann warte ich draußen.«

      »Aber Sir Wilson hat ausdrücklich befohlen, Sie sollen ihn drinnen treffen. Ich glaube nicht, dass es ratsam wäre …«

      »Ich habe nicht vor zu kämpfen«, sagte Pepper. »Ich werde ganz ruhig in der Ecke sitzen und zusehen.«

      »Das macht keinen Unterschied. Es kann durchaus passieren, dass Sie gefordert werden. Glauben Sie mir, wenn das passiert, sind Sie glücklich, wenn Sie einen Anzug haben.« O’Neill schlüpfte in die Hose, zog die weiche wattierte Weste über seinen Kopf und tauchte grinsend daraus wieder hervor.

      »Außerdem sieht es doch sehr kleidsam aus, oder?« Er breitete die Arme aus.

      »Na, komm schon, Max.« Boswell klopfte ihm auf den Rücken. »Wir wollen doch nicht wie Weicheier dastehen. Wenn uns einer zu einem Waffengang fordert, wird er sein blaues Wunder erleben.«

      »Das ist die richtige Einstellung«, sagte O’Neill. »Sir Wilson empfängt seine Mitarbeiter gern in ungewohnter Umgebung. Er ist der Auffassung, dass man Menschen besser einschätzen kann, wenn man sie neuen Situationen aussetzt. Nur wer sein gewohntes Terrain verlässt, zeigt sein wahres Gesicht.«

      »Gilt das auch für ihn selbst?«

      O’Neill blieb die Antwort schuldig. Das Lächeln, das um seinen Mund spielte, sprach allerdings Bände.

      Pepper schlüpfte in seinen Kampfanzug. »Was ist eigentlich an den Gerüchten, dass Sir Wilson einer einfachen Arbeiterfamilie entstammt? Soll sein Vater nicht im Kohlebergbau tätig gewesen sein?«

      O’Neill blickte ihn erschrocken an. »Woher wissen Sie das?«

      Max zuckte mit den Schultern. »Ich hatte während der Überfahrt eine Menge Zeit und habe diverse Erkundigungen eingezogen. Recherche gehört zu meinen besonderen Talenten.«

      »Wenn Ihnen Ihre Gesundheit am Herzen liegt, sollten Sie kein Wort darüber verlieren. Sir Wilson kann ausgesprochen unangenehm reagieren, wenn ihn jemand auf seine Vergangenheit anspricht. Besser, Sie vergessen alles, was Sie darüber gehört haben.« Er betrachtete sie prüfend. »Sitzen die Anzüge? Gut, dann können wir gehen.«

      Die Trainingshalle des Royal Musketeers Fencing Club war ein vollendetes Rund von beeindruckenden Ausmaßen. Etwa dreißig

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