TENTAKEL DES HIMMELS. Heike Vullriede

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TENTAKEL DES HIMMELS - Heike Vullriede

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wird er auch dafür bezahlt und bevorzugt, dachte sie dann und ihr Mitleid verpuffte schnell. Sie behielt die Socken und verabschiedete sich.

      

      Anna

      Auf der Fahrt nach Hause wollte Anna alles hinter sich lassen, was ihre Nerven hätte strapazieren können. Eigentlich gab es doch nichts, was man nicht wegduschen konnte. Alle Belastungen abwaschen, wie Schweiß an sich hinunterfließen lassen und sie im Abfluss verschwinden sehen, Gefühle abspülen wie Schmutz – ihre Strategie seit acht Jahren.

      Aber seit Kai Holzmanns Verschwinden gelang es ihr nicht mehr so gut. Der unauffindbare Kerl spukte wie ein Mahnmal in ihrem Kopf. Hatte er ihr gegenüber nicht das Undenkbare angedeutet – dass er aussteigen wollte? Als könnte man dort einfach kündigen und den Job wechseln! Wolff sollte zukünftig an seiner Stelle Geschäftsführer der Zentrale werden, was niemand anders erwartet hatte. Obwohl dieser Posten kaum mehr als eine Art Schulterklopfen für ihn bedeutete. Die rechte Hand Gottes! So hatte ihn Kai immer genannt. Gottes Vertrauter, der Einzige, der privat bei dem Padre ein- und ausging und der wirklich in absolut alles eingeweiht war.

      Ihre Gedanken blieben bei Kai haften. Was war nur mit ihm geschehen? Irgendetwas sagte ihr, dass Wolff für sein Verschwinden verantwortlich war. Der Vorstellung darüber, wie genau er darin verstrickt sein könnte, verweigerte sie allerdings, zu Ende gedacht zu werden.

      Anna parkte im Carport ihres kleinen Einfamilienhauses, öffnete die Wohnungstür einen Spalt und drückte erst einmal das dicke weiß-schwarz gescheckte Kaninchen mit einem Fuß sanft zurück in den Raum, bevor sie eintrat.

      »Na, Merlin? Wie war dein Tag?«

      Sie sah sich um. Das Tischtuch lag am Boden, der Staubsauger war umgekippt und das Sofakissen haarig.

      »Ach, Merlin! Du bist ein stummes, hoppelndes Ungeheuer!«

      Noch bevor sie die Jacke auszog, öffnete sie die Terrassentür, nahm einen halben Bund Möhren aus dem Kühlschrank und warf ihn samt Grün in den Garten. Der Riesenschecke sprang in weiten Sprüngen hinterher. Anna blieb kurz am Türrahmen stehen.

      »Wenigstens bellst du nicht«, murmelte sie.

      Dann lief sie ins Wohnzimmer zurück und hob das Tischtuch auf. Als sie das Kissen ausklopfte, stutzte sie.

      »Seit wann stellst du hier die Möbel um?«

      Misstrauisch betrachtete sie die Anordnung der Zierkissen auf ihrem Sofa – hatte das Rote heute früh nicht hinter dem Braunen gelegen? Stand dieses halb volle Glas Wasser auf dem Beistelltisch jetzt an einer anderen Stelle? Und der Tisch, war er nicht um einige Zentimeter verrückt worden? Ihr Blick wanderte durch den Raum, tastete die Möbel ab und glitt über den Teppich. Da war es wieder, dieses von tief innen emporkriechende Gefühl, jemand könnte in ihrer Wohnung gewesen sein, ihre Schränke durchsucht haben … womöglich sogar anwesend sein … Aber nein, die flachgedrückten Teppichfasern unter den Füßen ihres Wohnzimmertisches passten genau zur Stellung des Möbelstückes. Nicht zum ersten Mal bereute sie, dass sie so abgelegen wohnte. Damals fand sie das Haus gerade wegen der fehlenden direkten Nachbarn so attraktiv. Von ihrem Büro im Obergeschoss aus konnte sie die Straße sehen, aber sie war weit weg. Niemand würde es mitbekommen, wenn jemand hier eindringen würde.

      Sie zwang sich, den Zustand der Wohnung nüchtern zu beurteilen, versuchte, Umschweife und ausufernde Gedankenketten zu unterdrücken, welche zu nichts anderem führen mussten als zu purer Angst. Im Grunde fand sie nichts, was nicht auch das große Kaninchen hätte durcheinanderbringen können – oder doch? Ihr Unbehagen blieb und Anna wurde wieder einmal klar: Seit Kais Verschwinden und Peter Torbergs überraschendem Selbstmord gab es kein Vertrauen mehr in ihr. Nicht eine Spur der Sicherheit, die sie bislang empfunden hatte. Wenn sie ehrlich mit sich war, musste sie zugeben, dass alles an ihrem lässig sachlichen Auftreten inzwischen zu einer Maske mutiert war. Sie trug ein Clownsgesicht, mit dem sie ihre Umgebung täuschte, mit dem sie jeden in ihrem Umkreis betrog – Betrug an sich selbst eingeschlossen. Was sie nach außen zeigte, hatte nichts mehr mit ihrem Innenleben zu tun.

      Mit dem Kissen in der Hand ließ sie sich auf das Sofa sinken und schauderte bei der Aussicht, heute Abend aus diesem Zimmer hinaus in ein anderes gehen zu müssen. Wenn nun tatsächlich noch jemand hier war? Die Tür zur Diele lehnte nicht vollständig an, ein düsterer Spalt klaffte ihr entgegen. Dahinter: undurchdringliches, bedrohliches Dunkel. Alles ließ sich dort hineininterpretieren. Jede denkbare Gefahr wanderte aus ihrem Kopf in diese finstere Öffnung. Warum hatte sie sich noch immer keine Waffe angeschafft? Eine für die Handtasche, die sie stets hätte bei sich tragen können. Jetzt saß sie wehrlos hier und die aufkeimende Furcht, die sich schlängelnde Angst, gepflanzt von schlechtem Wissen und Gewissen … sie konnte sie nicht mehr ablegen wie früher.

      »Verdammt, Merlin, vielleicht wärst du doch besser ein riesenhafter Hund«, flüsterte sie in die Stille des Zimmers hinein.

      Alonso, der Padre – wie alle ihn nannten, sie selbst ihn aber niemals nennen würde – führte eine recht große Glaubensgemeinschaft an. In so vielen Städten standen inzwischen seine Gotteshäuser und Siedlungen. Seine Kirche des Lichts kroch leise durch das Land wie eine bösartige Schlange mit einem unscheinbar wirkenden Kopf, aber fleischigem Körper. Von Düsseldorf aus regierte er wie ein Papst über seine Anhänger und über sein kleines deutsches Imperium. Es gab viele Unternehmenszweige, nach denen er seine Finger ausstreckte, vorausgesetzt, es half ihm irgendwie weiter. Seine Macht war in den letzten Jahren erheblich gewachsen. Niemand gebot ihm hier in Deutschland Einhalt. Sie dachte an die vielen Sympathisanten aus Abhängigkeit, seine bezahlten Unterstützer, Richter, Politiker … sie wusste von ihnen, kannte ihre Namen … wer, verdammt noch mal, würde sich da nicht verfolgt fühlen?

      Sie atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen. Seine Schäfchen hielt der Padre mit sozialen und realen Zwängen beisammen.

      So ein dummes Schaf war sie selber aber nicht. Oh nein! Fest kniff sie in das Kissen auf ihrem Schoß. Ja, sie war eine derjenigen, die ihm gut bezahlt zur Seite standen, Teil der gut geführten Organisation. Für ihre Arbeit bekam sie ein Traumgehalt. Dafür war sie ihm Rechtsberaterin und Managerin auf all seinen Reisen. Das ließ sie zu gewissen Vorkommnissen ihren Mund halten. Es fiel bei dem Geld, das sie dafür bekam, nicht sonderlich schwer. Unbestreitbar verdiente sie mehr, als ihr Gewissen wert war.

      Sie entließ das Kissen aus ihren Krallen und legte es zur Seite. Sich selbst etwas vorzumachen, war Unsinn. Letztendlich wusste sie, warum sie noch immer zu vielen Vorfällen schwieg. Aufhören und weggehen? Ihre lang ersehnte Traumreise um die Welt antreten? Das ging nicht mehr – sie wusste längst zu viel. Genau wie Kai zu viel gewusst hatte. Die schrecklichen Verbrechen, die er ihr kurz vor seinem Verschwinden in einem heimlichen Treffen hinter der Siedlung, im Regen zwischen Kirschlorbeeren und Kastanienbäumen, gebeichtet hatte – dass er Menschen im Auftrag des Padre bestraft hatte – sie wusste alles. Er wollte sogar gemordet haben für ihn. Doch das weigerte sie sich, zu glauben.

      All das ließ die schleichende Furcht in ihrem Kopf zu, hinderte sie daran, ihr eigenes Bad ohne Angst zu betreten, bevor sie sich nicht zwanzigmal in der Wohnung umgesehen hatte. Sich Alonso entgegenzustellen, war gefährlich. Bisher war sie selbst von seiner strafenden Hand verschont geblieben. Wahrscheinlich dank ihrer Gabe, sich in der richtigen Dosierung anzupassen – nicht zu viel und nicht zu wenig. Doch sie schwankte. Sie balancierte auf einem schmalen Grat über einem sich immer tiefer aufreißenden Abgrund.

      Lange Ohren wackelten vor der Terrassentür. Anna erschrak, als sie es im Augenwinkel bemerkte. Dann riss sie sich zusammen, stand auf und öffnete, um das hoppelnde Untier,

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