Rizin. Lothar Beutin

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Rizin - Lothar Beutin

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Verdacht auf Bioterrorismus im Geleit der nine eleven Anschläge in Manhattan lag auf der Hand. Hatten Nachrichtendienste nicht geheime Produktionsstätten für Biowaffen im Irak entdeckt? War Anthrax nicht eine der bekanntesten Biowaffen überhaupt? Einfach in der Herstellung und verheerend in der Wirkung. So verheerend, dass Sporen des Milzbranderregers, welche die britische Armee auf eine unbewohnte Insel abgeworfen hatte, fünfzig Jahre danach immer noch ansteckungsfähig waren. Für die Militärs relativierte das die Eignung von Anthrax als Kriegswaffe, weil man das Land des Gegners für Jahrzehnte lang nicht ohne Schutzanzug betreten konnte. Aber für Terroristen, die Angst und den Tod verbreiten wollten, schien diese Waffe dagegen viel besser geeignet zu sein.

      Diese Absicht teilten auch Kreise des japanischen Militärs, die Anthrax im Zweiten Weltkrieg in China einsetzten, um die Zivilbevölkerung zu dezimieren. Nach Kriegsende wurden die Verantwortlichen von den Alliierten zum Tode durch den Strang verurteilt. Doch einige konnten ihren Hals durch ihre Kenntnisse retten, die sie den Siegermächten zur Verfügung anboten. So entstand zu Beginn des Kalten Krieges eine staatlich geförderte B-Waffen Entwicklung, welche die Atombomben im Portfolio der Drohkulisse ergänzen sollte. Die Großmächte betrieben geheime Forschungseinrichtungen zur Entwicklung von biologischen Waffen. Das in der Sowjetunion gelegene Institut in Stepnogorsk fiel nach der Wende durch die weiträumige Verseuchung der Umgebung mit Viren und Bakterien auf. Entdeckt wurde das nur durch Zufall, weil Stepnogorsk in den Wirren der Wendezeit von ausländischen Experten besucht werden durfte. Ein amerikanisches Gegenstück zu Stepnogorsk war Fort Detrick im Bundesstaat Maryland. Hier musste man sich nie von ausländischen Inspektoren in die Karten gucken lassen. Als der Kalte Krieg nach 1990 eine Pause machte, litt Fort Detrick wie sein russischer Gegenpart an nachlassendem Interesse der Militärs. Mit der Folge, dass die Budgets dieser Institute immer mehr schrumpften.

      Nach dem Auftauchen der Anthraxbriefe war das Interesse an B-Waffen wieder geweckt. Gewisse Leute mochten daraus einen Nutzen ziehen. Aber die Aktion geriet bald außer Kontrolle, weil die präparierten Briefe nicht nur ihre Adressaten trafen, sondern zwischen den Walzen der Sortieranlagen in der Post aufplatzten und ihren staubigen Inhalt auf die dort Arbeitenden verteilten. Dadurch wurde die Verbreitung der Milzbrandbakterien unvorhersehbar.

      Wer konnte hinter den Briefen stecken? Die Analyse der Sporen ergab, es handelte sich um ein professionell hergestelltes Produkt. Die Verarbeitung der Bakterien zu einem feinen, flüchtigen Pulver konnte nur mit Spezialmaschinen erfolgt sein. Von offizieller Seite wurde ein Zusammenhang mit der Terrororganisation al-Quaida gezogen, die kurz zuvor mitten in Manhattan ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt hatte. Hatten die Attentäter des 11. September nicht bewiesen, wie weit der Terrorismus in die Infrastruktur des Landes eingesickert war? Waren die Terroristen möglicherweise schon in Fort Detrick?

      Die Anthraxbriefe waren ein gefundenes Fressen für die Medien und Deutschland blieb davon nicht ausgenommen. Die Briefe kursierten zwar nur in den USA, doch jeder erwartete ihr Auftreten in anderen Ländern. An einem Frühsommertag war es in der deutschen Hauptstadt soweit: Eine Angestellte des Möbelhauses Hiller fand nach Ladenschluss einen im Geschäft abgelegten Brief, der außer einem staubigen Papiertaschentuch mit einer unverständlichen Botschaft weiter nichts enthielt. Der Umschlag landete zunächst bei der Polizei, dann beim Landeskriminalamt und schließlich wurde der Staatsschutz eingeschaltet. Pressemitteilungen, wie Anthraxbrief in Berlin aufgetaucht, konnten nicht mehr verhindert werden und die Angestellte des Möbelhauses freute sich über die vielen Interviews.

      Hier bestand Verdacht auf terroristische Aktivität, es mussten Untersuchungen an dem Briefinhalt vorgenommen werden. Diese hätte jedes medizinische Labor durchführen können, aber es handelte sich um eine Sache der höchsten Sicherheitsstufe, um ein Politikum. Welche Institution kam dafür besser infrage als das IEI unter der Leitung des berühmten Professors Herbert Krantz?

      Für das IEI begann mit diesem Tag eine neue Epoche, der Einstieg in die Biowaffenforschung. Das Landeskriminalamt meldete sich bei Direktor Krantz, ob die Untersuchung des Briefes in seinem Institut erfolgen könnte. Krantz gab zurück, das sei selbstverständlich kein Problem. Er verschwieg, wie schlecht die Voraussetzungen dafür inzwischen waren, denn er selbst hatte Monate zuvor die klinische Bakteriologie am IEI so gut wie aufgelöst. Die freiwerdenden Mittel und das Personal waren längst auf die virologischen Fachgruppen verteilt. Aber Herbert Krantz irritierte das nicht. Unmittelbar, nachdem das LKA sich bei ihm gemeldet hatte, zitierte er die Leiter aller Laborbereiche zu sich. Schneider war vom Anruf aus dem Präsidialbüro überrascht, weil der Termin umgehend war. Als Schneider, der sich nicht besonders beeilt hatte, Krantzens Bürosuite betrat, saßen dort bereits Kollegen aus allen Abteilungen des Instituts.

      Sogar Krantz war diesmal pünktlich, und nachdem Schneider eingetroffen war, eröffnete er die Sitzung. „Ich musste Sie kurzfristig zu mir bitten, da der schon befürchtete Ernstfall eingetreten ist. Heute sind wir vom LKA informiert worden, dass ein im Möbelhaus Hiller deponierter Brief möglicherweise Anthraxsporen enthält. Ich habe bereits mit dem Bundeskriminalamt Kontakt. Man erwartet von höchster Stelle eine unverzügliche Aufklärung des Sachverhaltes durch das IEI. Ich setzte voraus, dass der Nachweis dieser Sporen für uns kein Problem darstellt!“

      Mit der Betonung auf seine letzten drei Worte starrte er Leo Schneider an, wie ein räuberisches Insekt, möglicherweise, weil Schneider das einzige noch existierende bakteriologische Labor am IEI betrieb. Schneider war zu überrascht, um darauf zu reagieren. Krantz legte nach: „Ich nehme an, dass diese Untersuchung bei Ihnen problemlos durchgeführt werden kann, Herr Schneider?“ Der leise Tonfall war unüberhörbar, da alle Anwesenden wie gebannt schwiegen.

      Leo Schneider zögerte. Er hatte nichts für die Untersuchung von Anthrax im Labor vorrätig, er arbeitete mit anderen Bakterien, die Durchfall verursachten. Aber ein Test für Anthraxsporen wäre schnell aufgebaut und vielleicht eine Chance, sein Labor zu erhalten. Er überlegte ein paar Sekunden zu lange. Als er gerade „Ja, aber ...“, sagen wollte, kam von Gerhard Hellman, dem Leiter der virologischen Abteilung, der Satz: „Wir können das machen!“

      Damit hatte Schneider nicht gerechnet. Der Veterinär Hellman hatte vielleicht als Student das letzte Mal mit Bakterienkulturen gearbeitet. Ob Hellman überhaupt wusste, wie man Sporen bildende Anthrax Bazillen erkennt? Schneider war sprachlos, in seinem Kopf schossen sich die Gedanken gegenseitig ab. Instinktiv spürte er, wenn er weiter schwieg, würde sein Labor bald nicht mehr existieren. „Ja, natürlich können wir diese Untersuchungen durchführen“, sagte er eine gefühlte Unendlichkeit später.

      Krantz fixierte ihn weiterhin, seine Augen verengten sich, dann blickte er auf seinen Duzfreund Hellman. Er verzog seine schmalen Lippen zu einem dünnen Grinsen, das seinen Oberlippenbart zu einem Strich gerinnen ließ. „Ich denke, Sie beide werden das übernehmen und dabei zusammenarbeiten. Sie sind beide für das Gelingen verantwortlich, wir dürfen uns gegenüber dem LKA keine Schwächen erlauben. Das war es für heute, ich schließe die Sitzung, Sie können zurück an Ihre Arbeit, meine Damen und Herren.“

      Schneider nickte. Ihm blieb nichts weiter zu sagen und er sah, wie Hellman zufrieden grinste, als alle Anwesenden eilig das Präsidialbüro verließen, froh, dass der Kelch diesmal an ihnen vorübergegangen war. Alle, bis auf Hellman, der keine Anstalten zum Gehen machte. Schneider stand betont langsam auf, hoffte, Hellman würde auch gehen, aber der blieb sitzen und Schneider ging mit gesenktem Kopf aus dem Raum. Wie ein Schlafwandler lief er durch das Vorzimmer an der Chefsekretärin vorbei, verließ den Präsidialtrakt und ging den Flur im Altbau des Instituts entlang. Hellman hatte als Leiter der virologischen Abteilung viel mehr personelle und apparative Mittel, als Schneider mit seinen verbliebenen zwei technischen Assistentinnen. Hellman und Krantz kannten sich schon aus Studienzeiten, zwei Duzfreunde, beide um die sechzig. Schneider fühlte, dass zwischen ihm und den beiden Männern eine Kluft lag, die er nicht überwinden konnte noch wollte.

      „Männer über sechzig sind gefährlich, denn sie haben keine Zukunft!“ Diesen Satz hatte Leo

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