Die Glasbrecherin. Irene Euler
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„Wofür in aller Welt braucht die Generalin eine Glasbrecherin in ihrem Heer?“
Unwillkürlich holte Erdree wieder Luft und beugte sich vor. Zum ersten Mal, seit sie am Tor von Mooresruh vor seinem kalten Auge zurückgeschreckt war, blickte sie direkt in Wiralins Gesicht. Würde sich nun das Geheimnis lüften, nach dem sie nicht zu fragen gewagt hatte?
Wiralins Mundwinkel hoben sich zu einem spöttischen Lächeln. „Das, beste Munia, kann ich nicht einmal dir sagen.“
„Immer diese Geheimnistuerei von euch Soldaten!“ beschwerte sich die Hausherrin. „Ich zahle Steuern, um das Heer zu erhalten! Habe ich also nicht das Recht, zu erfahren, was mit meinem Geld geschieht?“
Munias theatralische Geste trieb eine Parfumwolke in Erdrees Richtung. Der schwere Duft war zu viel für die gereizte Kehle der Glasbrecherin. Stoßweises, scharfes Krächzen brach hervor. Ein Kristallluster, der tief in die Halle hinunterhing, klirrte beunruhigend. Mit tränenden Augen rang Erdree darum, den Husten zu ersticken.
„Das arme Ding ist krank.“
Statt Mitgefühl hörte Erdree nur Missbilligung in Munias Tonfall.
„Führ sie am besten gleich in ein Zimmer,“ befahl die Hausherrin ihrem Diener. „Aber versichere dich, dass sich nichts Zerbrechliches in dem Raum befindet. Dann sag dem Koch Bescheid, dass ich einen Gast zum Abendessen habe.“
Munia hakte sich besitzergreifend bei Wiralin unter und wies ihm die Richtung, in die er sie führen sollte. Erdree duckte sich unter dem herablassenden Blick des Dieners. Zum Glück fing sie gerade noch den Wink auf, mit dem er sie aufforderte, ihm zu folgen. Auf verschlungenen Wegen führte er sie in ein winziges Zimmer. Obwohl Erdree nie zuvor in einem Herrenhaus gewesen war, begriff sie sofort, dass dies eine Dienstbotenkammer sein musste. Erdree atmete auf. Hier gab es nur ein kleines Fenster und gewiss keine Kristallleuchter. Das frisch bezogene Bett stand an einer Wand, die wohlige Wärme ausstrahlte. Es musste eine Kaminwand sein. Nachdem ein Dienstmädchen einen Krug Wasser und eine große Schale Suppe gebracht hatte, blieb Erdree allein. Zum ersten Mal, seit sie Mooresruh verlassen hatte, war sie an einem Ort, der sie nicht quälte.
III
Zum unzähligen Mal verfluchte Wiralin die Reise nach Mooresruh und das Wetter, das ausgerechnet an diesem Tag Eisregen auf Monstedt niedergehen ließ. Er hatte sich geschworen, nie wieder einen Fuß über die Schwelle von Redanshaim zu setzen. Dennoch saß er hier neben Munia im Salon. Der rote Überzug des Sofas war immer noch derselbe wie vor vier Jahren. Schweigend widmete Wiralin dem Weinglas in seiner Hand unnötig große Aufmerksamkeit. Er täuschte die Müdigkeit eines Reisenden vor, um Munias Lächeln nicht sehen zu müssen. Dieses Lächeln versuchte, Fürsorglichkeit vorzutäuschen, und sprach doch nur von Selbstzufriedenheit. Niemand anderer hatte die Narbe in seinem Gesicht so unverhohlen gemustert wie Munia. Und niemand anderer würde sich so an diesem Anblick weiden wie sie.
„Sag mir, wie kommst du damit zurecht?“ fragte Munia zuletzt. Wieder legte sie ihre Hand sanft auf seine rechte Wange.
Wiralin parierte den Reflex, der Berührung auszuweichen. Erst nach einigen Augenblicken nahm er einen Schluck Wein, um Munias Hand zu entkommen.
„Ich bin ein Soldat. Wunden und Narben gehören zum Soldatenleben dazu.“ Seine raue Stimme klang selbst in seinen Ohren nicht überzeugend.
Munia wurde sarkastisch: „Ja, ja. Der Ruhm des Soldatenlebens! Ein Auge zu verlieren ist natürlich viel besser als ein sorgloses, sicheres Leben zu führen.” Nach einer kurzen Pause rückte sie noch ein Stück näher. Diesmal legte sie ihre Hand auf sein Knie. „Ich werde nicht sagen, dass es dir recht geschieht – es schmerzt mich zutiefst, dich derart zerstört zu sehen! Aber es würde mir viel bedeuten, wenn du inzwischen eingesehen hättest, dass du äußerst undankbar warst, als du plötzlich beschlossen hast, zum Heer zu gehen.“
Wiralin stand auf, um die Rücken einiger Bücher im Regal näher zu betrachten. Kein einziger Buchtitel drang bis in sein Gehirn vor. „Ich habe damals meine Pflicht gegenüber Linland erfüllt und tue es immer noch. Als die Ronn an der Nordostgrenze auftauchten, musste ich mein Land gegen diese neue Gefahr schützen. Ist die Sicherheit Linlands nicht wichtiger als ein sorgloses, sicheres Leben?“
Munia breitete ihre Arme über die Lehne des Sofas aus, als ob sie nur darauf gewartet hätte, allen Platz für sich zu haben. Doch ihr Ton troff vor verletztem Stolz: „In deinem Taumel von Heldenhaftigkeit hast du allerdings etwas Wichtiges vergessen: Wem du es zu verdanken hast, dass du solche hehren Pflichten für Linland auf dich nehmen kannst. Wenn ich nicht mit fast übermenschlicher Großzügigkeit über deinen... jugendlichen Leichtsinn hinweggesehen hätte, wäre dir eine ganz andere Karriere bevorgestanden – nämlich die eines Sträflings im Kerker. Oder bestenfalls in einem Steinbruch.“
Die mühsam aufrecht erhaltenen Bollwerke brachen. Lange verbannte Erinnerungen stürmten auf Wiralin ein.
Sein Vater war ein Tagelöhner in einem Dorf nahe Monstedt gewesen. Nach dem frühen Tod seiner Frau hatte er seinen Sohn die meiste Zeit sich selbst überlassen. Der einzige ständige Begleiter des Heranwachsenden war der Hunger gewesen. Bald hatte Wiralin sich tagsüber aus der winzigen, dunklen Hütte in den Wald um das Gut Redanshaim geflüchtet. Der Wald bot im Sommer Beeren, Pilze und Nüsse. Und das ganze Jahr über huschte Kleinwild über den Boden und über die Baumstämme. Wiralin begann mit einer Steinschleuder, dann baute er sich immer bessere Bögen und Pfeile. Damit brachte er Hasen, Eichhörnchen und Hühnervögel zur Strecke, später auch Rotwild. Mit fünfzehn wurde er von Munias Jäger ertappt. Der Jäger führte den Wilderer seiner Herrin vor. Munia ging lange Zeit um ihn herum, betrachtete ihn von allen Seiten und schwieg mit hoheitsvoller Miene. Wiralin erwiderte abwechselnd trotzig ihren Blick oder starrte wie betäubt zu Boden. Diese Frau, die sein Leben in ihren Händen hielt, erschien ihm ebenso unwirklich wie ihr prächtiges Herrenhaus. Eine Gefahr stand ihm jedoch klar vor Augen: In Monstedt eingekerkert zu werden. Danach dürfte er sich nicht einmal mehr Hoffnungen darauf machen, sich wie sein Vater als ehrlicher Tagelöhner durchzuschlagen. Doch dann blieb die faszinierende Herrin von Redanshaim vor ihm stehen.
„Wie kann ein so schöner Junge nur so böse sein?“ lauteten ihre ersten Worte. „Beweise mir, dass du ebenso gut sein kannst wie du schön bist, und ich werde über diesen einen Fehler hinwegsehen.“
Redanshaim wurde von einer Traumvision zur Wirklichkeit und riss Wiralin mit sich fort. Munia nahm den ertappten Wilderer als ihren Pagen auf und sorgte dafür, dass er auch den Unterricht eines Pagen erhielt. Wenig später holte sie ihn in ihr Bett. Wiralin fand sich in einem Strudel aus Angst, Aufregung, Schuldgefühl, Stolz, Selbstverachtung, Liebe und Hass wieder. Je älter er wurde, desto mehr drohte ihn der Strudel zu zerreißen. Sein Widerwille dagegen, seiner Herrin völlig ausgeliefert zu sein, wuchs bis an die Grenze des Erträglichen. Dennoch schreckte er vor dem Leben eines Tagelöhners – oder gar eines Sträflings – zurück. Der Ruf nach neuen Soldaten für den Kampf gegen die plötzlich aufgetauchten Ronn kam wie eine Erlösung. Wiralin war ein besserer Bogenschütze als je zuvor. Während seines Lebens im Herrenhaus hatte er die Jagd nie aufgegeben, und natürlich schoss er schon lange nicht mehr mit selbstgefertigten Waffen. Er wusste, dass er nur als einfacher Bogenschütze in das Heer aufgenommen werden würde. Aber er hatte in Redanshaim viel gelernt. Er würde aufsteigen. Niemand würde einen fähigen, gebildeten Soldaten fragen, ob er einmal gewildert hatte. Mit eiserner Entschlossenheit trat er vor Munia hin, um ihr mitzuteilen, dass er sich als Soldat gemeldet hatte. Noch am selben Tag verließ er Redanshaim – mit nichts als den Kleidern, die er am Leib trug. Begleitet wurde