Die Macht des jungen Magiers. Yvonne Tschipke
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Für einen Augenblick schwiegen die beiden Männer. Oskas glaubte, sogar die Holzwürmer in den schweren Möbeln werkeln zu hören.
„Du musst ihn holen, Oskas!“, wiederholte Darios den Auftrag; sein Tonfall allerdings klang nun schon etwas energischer als zuvor. Er hatte es noch nie sehr geschätzt, wenn sein Ziehsohn Anordnungen mit Zweifeln begleitete.
Darios stützte sich mit beiden Händen auf der breiten Tischplatte ab und schob sich mit etwas Schwung von seinem Stuhl hoch.
Er war schon sehr alt und Oskas kam gerade in diesem Augenblick in den Sinn, dass Darios es im Grunde genommen schon gewesen sein musste, als er ihn kennen gelernt hatte. Er selbst war damals vor dreizehn Jahren noch ein Kind – gerade erst zwölf. Oskas war zu dieser Zeit in die große Stadt Emor gekommen, kurz nachdem die Häscher über den Hof seines Vaters hergefallen waren. Darios hatte den hungrigen, zerlumpten Jungen in einer der engen Gassen der Stadt aufgesammelt und ihn in sein Haus mitgenommen. Seit diesem Tag war der alte weise Mann Oskas` Familie.
„Du musst es schaffen – irgendwie. Er ist der Einzige, der Emotan jetzt noch retten kann.“ Mit bedächtigen Schritten, bei denen seine lange schwarze Robe aus Leinenstoff wehte wie ein Vorhang im Wind, ging er hinüber an den Bücherschrank aus dunklem Eichenholz, der sich über die gesamte Wand des Studierzimmers erstreckte. Mit seinen faltigen Händen öffnete er eine der mit bunten Bleiglasornamenten verzierten Türen. Langsam ließ er seine Finger über die dicken Buchrücken aus schwarzem und braunem Leder streifen. Bei manchen umfuhr er gedankenverloren die goldenen verschnörkelten Buchstaben. Darios seufzte leise, doch dann zog er - ganz plötzlich - ein Buch zwischen den anderen heraus. Es war, als hätte er schon lange auf den Augenblick gewartet, genau dieses eine aus dem Regal nehmen zu können. Die zurück gebliebenen Bücher fielen gegeneinander und verschlossen die zwischen ihnen entstandene Lücke - fast ein wenig beleidigt, weil der alte Mann nicht sie ausgewählt hatte.
Darios schritt zurück an den Tisch, wo Oskas mit erwartungsvoll blickenden Augen saß und seinen Ziehvater beobachtete.
„Hier, nimm das und bring es ihm.“ Die Worte des alten Mannes klangen in Oskas` Ohren fast wie ein Befehl. Genau das hatte Darios auch beabsichtigt. Er wollte, dass Oskas sich unverzüglich auf den Weg machte. Ohne Wenn und Aber. Ohne jegliche Diskussion. Von diesem Auftrag hing die Zukunft Emotans ab.
Darios wickelte das Buch in einen langen Schal der über der Stuhllehne hing und drückte es Oskas dann in die Hand.
„Was soll ich ihm sagen?“ Der junge Mann sah seinen Ziehvater fragend an.
„Sag ihm, was du im Herzen hast. Du wirst zur rechten Zeit die richtigen Worte finden, glaube mir, Junge.“ Mehr sagte der Alte nicht.
Er zog Oskas vom Stuhl hoch, nahm ihn bei den Schultern und schob ihn sanft, aber bestimmt, aus dem mit Kerzen beleuchteten Raum.
„Und jetzt geh!“
Kapitel 1
Über mir erklang das schrille Bimmeln einer Glocke. Sie machte einen höllischen Lärm und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Als ich die Tür hinter mir schloss, klirrte das Ding gleich noch einmal. Eigentlich hätte ich es wissen müssen – doch ich zuckte schon wieder zusammen. Ich warf der Glocke aus angegilbtem Messing einen zornigen Blick zu. Vielleicht, hoffte ich, würde sie auf ewig verstummen. Dämliches Teil!
Ich sah mich um. Nach nur ein paar Sekunden kam es mir fast so vor, als hätte mich jemand gut drei Jahrhunderte zurück gebeamt. Es war düster in dem engen Raum. Durch das kleine Fenster gleich neben der Eingangstür schien nur ein einziger Sonnenstrahl dringen zu können, der die abertausend kleinen Staubkörnchen zum Glitzern brachte, die auf seinem Weg durch den Raum wild um ihn herum tanzten.
An den Wänden und sogar noch mitten in dem sowieso schon engen Raum standen grob gezimmerte Regale aus Holz, die bis unter die niedrige Decke reichten. Sie waren
vollgestopft mit irgendwelchen Dingen: Geschirr und andere Haushaltsgegenstände, Spielzeug, Wäsche. In einem der Regale entdeckte ich Unmengen von Büchern. Bücher, die genauso uralt aussahen, wie der Rest der Ware. Und auch genauso rochen. Das war nicht sehr verwunderlich. Immerhin stand draußen über der Tür in geschwungenen Buchstaben „Oskas Galatanis Alte Welt“.
Mein Freund Ben hatte mir diesen Laden empfohlen. Wenn ich es mir recht überlegte, hatte er mich geradezu genötigt, dorthin zu gehen. Und ich hatte seinen Vorschlag dankbar angenommen. Denn der Geburtstag meiner Schwester Alma stand vor der Tür. Ich brauchte dringend noch ein Geschenk für sie, denn wie in jedem Jahr war ich natürlich wieder einmal viel zu spät dran. Man mag es kaum glauben: Seit nunmehr 17 Jahren hatte Alma an ein und demselben Tag Geburtstag, aber ich vergaß ihn jedes Mal aufs Neue. Er war schon am nächsten Tag und ich hatte noch nicht einmal eine Idee, was ich ihr schenken könnte.
„Alma liebt doch alte Sachen“, meinte Ben heute Morgen fast beiläufig in der großen Pause. „Versuch es doch mal im Trödelladen von Oskas Galatani. Da findest du ganz bestimmt etwas für deine Schwester.“
Tja, und deshalb stand ich nun also in dem Laden von diesem Oskas Galatani. Seltsamer Name, dachte ich mir. Vielleicht kam er ja aus einem anderen Land.
Nach dem mörderischen Läuten der Türglocke war niemand erschienen. Das störte mich allerdings nicht sehr. Denn so hatte ich wenigstens ein paar Augenblicke länger die Gelegenheit, mich umzuschauen, bevor der verkaufswütige Ladenbesitzer mich total vereinnahmen konnte.
Ich hasste es, in kleine Läden zu gehen und in Beschlag genommen zu werden, noch ehe ich mich richtig umgesehen hatte. „Suchst du nach etwas Bestimmtem? Kann ich dir helfen? Und wenn jetzt nicht, dann ruf mich, wenn du meinen Rat brauchst!“ Noch viel schlimmer fand ich allerdings, wenn ich mich in diesen Läden bei jedem meiner Schritte permanent von einer Verkäuferin mit Adleraugen beobachtet fühlte und mir dabei immer so vorkam, als wäre ich ein potentieller Ladendieb oder hätte die Dame bei irgendetwas Wichtigem gestört.
Aber hier in diesem kleinen engen Trödelladen schien das ganz und gar anders zu sein. Zwar hörte ich das leise Klappern und Rascheln, das vermutlich aus dem Raum kam, der sich hinter der Verkaufstheke befand, doch es kam niemand nach vorn. Allerdings beschlich mich das unangenehme Gefühl, dass die Augen von irgendjemandem von irgendwoher auf mir ruhten. Bei diesem Gedanken kroch mir unwillkürlich eine leichte Gänsehaut über den Rücken. Trotzdem ließ ich meine Blicke weiter durch den Laden streifen, auf der Suche nach einem Geschenk für Alma. Sie wanderten über all diese Dinge in den Regalen, die ihre eigene lange Geschichte in sich trugen. Ihre Geschichte, die sie auf eine ganz bestimmte Art und Weise wertvoll machte.
Nach einer Weile entdeckte ich in einem der Regale etwas, das meiner Schwester ganz sicher gefallen würde. Es war ein rundes Tintenfass aus Glas. Ringsherum war es mit klitzekleinen bunten Glasscherben verziert. In dem Fässchen steckte ein Federhalter aus dunklem Holz. „Perfekt“, flüsterte ich. Das würde sich ziemlich gut auf Almas Schreibtisch machen. Ich hoffte, dass es nicht zu teuer war. Als ich schon danach greifen und es aus dem Regal nehmen wollte, überlegte ich mir, dass der Besitzer der wertvollen Dinge es vielleicht nicht so gern sah, wenn man sich hier selbst bediente.
„Hallo- ho?“ Meine Stimme krächzte ein wenig, als ich versuchte, mich bemerkbar zu machen. Ich sah in Richtung der schmalen Tür, die sich hinter der Theke mit der uralten Registrierkasse befand. Ich hörte es erneut rascheln, dann vernahm ich leise Schritte. Doch entgegen meiner Erwartung kam der Verkäufer des Ladens nicht aus dem