Jenseits von Oberhessen. Carola van Daxx
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Читать онлайн книгу Jenseits von Oberhessen - Carola van Daxx страница 10
Die ganzen Feiertage zuvor hingen sie im wahrsten Sinne des Wortes aufeinander – oder auch nebeneinander, zur Abwechslung. War es denn dann sooo schlimm, dass er einmal alleine sein wollte? War das Fest der Liebe, geschlagene drei Feiertage und -nächte am Stück, denn nicht genug der Zweisamkeit gewesen? Musste gleich noch ein bombastisches Silvesterfeuerwerk der Harmonie (und der Erotik!) im Anschluss abgefeuert werden? Er war wirklich froh gewesen, dass sie Blitzeis angekündigt hatten. Blitzeis war seine Rettung gewesen. Die Chance auf einen friedlichen Jahreswechsel – die Chance auf einen stressfreien Drink mit seiner Lieblingsnachbarin Tonja. Die Chance auf realen Frieden zum Neujahrsbeginn – ganz ohne Zwangsnähe, weil es sich so gehört zwischen vermeintlich sich Liebenden… Niemand, der ihm ständig vom Abnehmen erzählte, es aber nie richtig in Angriff nahm, stattdessen aber bei allem, was ess- und trinkbar war, nicht nein sagen konnte. Niemand, der ständig alles und jenes auseinandernahm, was er sagte – oder auch nicht sagte. Niemand, der ständig mit einem Ohr am Café lauschte, obwohl „Feiertag“ war und die Perlen den Laden auch super alleine schmissen. Niemand, der – nennen wir es beim Namen – schlicht und ergreifend die meiste Zeit eine Nervensäge war.
Diese Frau brachte ihn vermutlich noch um den letzten Funken Energie, befürchtete er. Manchmal hatte er schon das beklemmende Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Atemlos – nur ohne Helene Fischer und das Ganze sogar schon tagsüber… Und dass, obwohl er in einer Art Luftkurort im Hohen Vogelsberg residierte. Aber für ihn fühlte sich das alles mittlerweile an wie ein einziges Reizklima – und das Gebirge war nicht schuld daran!
Er war wirklich kurz davor, Lina ein offizielles Kündigungsschreiben ins Haus flattern zu lassen. Aber das war nur ein kurzer Gedanke gewesen. Es wäre nicht sein Stil gewesen, nicht seine Art, die Dinge auf diese Weise zu beenden. So etwas hätte eher zu Lina gepasst: die ganze Wut ungefiltert in die Tasten hauen und dann auf „SENDEN“ drücken. So etwas würde ihr ähnlich sehen.
Er jedoch war nicht ganz so impulsiv wie Lina. Ein bisschen hatte sich Jan auch schon an die gemächliche Vogelsberger Mentalität angepasst.
Gemach, gemach… Erst ma gucke, dann ma seh’n…
Aber zu sehen gab es neuerdings auch nichts mehr, denn Lina war doch tatsächlich alleine losgezogen. Eine kurze SMS hatte ihn anstandshalber noch informiert, dass die Holde gen Afrika gereist war. Zugetraut hätte er ihr das nicht, und eigentlich konnte es ihm auch egal sein, fand er. Aber irgendwie wurmte ihn die Sache doch. Den geplanten Ostseetrip hatte er zwar für null und nichtig erklärt, sich einfach nicht mehr gemeldet, geschweige denn dazu geäußert. Aber dass die Funkstille nun gleich das komplette Mittelmeer zwischen sie bringen musste, war auch irgendwie blöd.
Wie er es auch drehte und wendete, Fakt war, dass alles auf eines hinauslief: Trennung Nummer zwei. Oder war es vielleicht in Wirklichkeit schon die dritte oder die vierte? Maue Phasen hatte es immer wieder gegeben, doch nun hatte Jan Johannsen bald die Faxen dicke. Immer diese Vorwürfe, dieses Anklagen, die ständigen Erwartungen. Hochgeschraubte Erwartungen, die zum Schluss immer irgendetwas mit Heiraten oder Familiengründung zu tun hatten. Das war einfach nicht sein Ding, es fühlte sich an wie „Betreutes Wohnen“, wenn er alleine an ein erneutes Zusammenleben unter einem Dach mit ihr dachte! Immerhin war Jan ein Künstler, hatte eine sensible Seele, die Zeit und Raum brauchte, zum kreativen Ausdruck, zur inneren Einkehr, zur Muse – und nicht zuletzt zum Sortieren seiner Kontoauszüge… Der neue Reichtum musste ja auch irgendwie verwaltet werden. Profane Erkenntnisse, aber es gab schlimmere Wahrheiten. Seine früheren Kontoauszüge zum Beispiel… Armselige Relikte aus der Zeit, bevor er zum Van-Gogh der Neuzeit wurde. Jetzt war er immerhin eine Art „Öffentliche Person“, eine schillernde Figur der Kulturszene – und das nicht nur in Deutschland, nein, auch international hatte er von sich Reden gemacht.
Wie konnte Lina da, man beachte sein fortgeschrittenes Alter von nahezu runden fünfzig Jahren, noch an Babybrei und Windelwechseln denken? Aber er konnte sich ausmalen, woher die Ansprüche noch rührten: Linas Eltern. Besonders Mama Siebenborn war ja wild auf Enkelkinder und ließ keine Gelegenheit aus, entsprechende Anspielungen zu machen. Wer weiß, was sie Lina alles ins Ohr drückte, wenn er nicht dabei war? Was häufig vorkam…
Andere bereiteten sich in diesem Lebensabschnitt schon fast auf den Ruhestand vor. Was Jan keineswegs vorhatte, ganz im Gegenteil. Er hatte noch eine ganze Menge auf dem Zettel stehen und wollte seinen so lange vermissten Erfolg noch eine lange Weile in vollen Zügen genießen.
An jenem Januarmorgen ging er etwas zerknirscht und missmutig in seine Malschule. Der erste Tag nach der Weihnachtspause, ein neuer Kurs stand an, den er spontan ins Leben gerufen hatte. Aber nicht nur das: Es standen tatsächlich auch neue Schülerinnen auf der Matte! Frischfleisch für die Kunst, dachte Jan – und verwarf den Gedanken gleich wieder. Diese Damen waren nicht einwandfrei dem herkömmlichen Frischfleisch zuzuordnen, höchstens in Bezug auf ihre noch fehlenden Malfertigkeiten. Er hatte immer Angst, dass er seine heimlichen Assoziationen einmal versehentlich lautstark zum Besten geben würde, wenn es gerade sehr unangebracht wäre. So als Freudsche Fehlleistung par excellence…
Eigentlich hätte er nicht mehr unterrichten müssen. Aber nun hatte er die Malschule einmal ins Leben gerufen und dazu noch den Weinhandel, das konnte er nicht so einfach wieder sein lassen. Er hing auch an seinen Kursen, an seinen Schülern. Zumeist Schülerinnen, er hatte eben eine gewisse Anziehungskraft auf bestimmte Damen.
Kaum hatte die Anfänger-Klasse also begonnen, die ersten zarten Versuche mit Pinsel und Farbe in die Tat umzusetzen, registrierte er aus der Küche heraus, wie die Tür erneut aufging und offenbar ein Nachzügler gekommen war:
„Entschuldigung, ich bin etwas zu spät, befürchte ich. Guten Morgen, erst einmal, ich suche Herrn Johannsen, den Mallehrer!“, hörte Jan eine angenehme Frauenstimme sagen, als er gerade den Kaffee in den Filter gab. Wer war das denn? Neugierig lugte er blitzschnell aus der Tür, den Kaffeelöffel noch in der Hand haltend: „Guten Morgen, hier sind Sie goldrichtig! Sie haben den Lehrer bereits gefunden…“
Hossa, hossa! Schoss es Jan durch den Kopf. Wer hat denn diese Prinzessin hier hergezaubert? Eine Augenweide in Schottens Altstadt, man könnte meinen, die Dame wäre direkt von einem der Haute-Couture-Laufstege in Paris importiert worden. Solche Erscheinungen waren doch eher selten im bodenständigen Oberhessen. Ein echter Hingucker!
„Ich bin Sophie. Sophie von Rohdenfeld. Und wollte am Malkurs für Anfänger teilnehmen.“ Sie reichte ihm artig ihre Hand, eine so entzückende Hand, ausgesprochen gepflegt und perfekt manikürt, im Prinzip schon ein einziges Gesamtkunstwerk – genau wie der Rest dieser unglaublichen Frau, die er auf höchstens Mitte dreißig schätzte. Ein perfekt geschnittenes Gesicht – wenn auch mit einer Narbe auf der Wange, was die Dame noch aparter erscheinen ließ. Das dunkelbraune Haar, schulterlang und kräftig, ein unglaublicher Glanz. Die wohlgeformten Beine, ebenso lang, ach was, länger, eigentlich am längsten… Und die Augen erst: ein Braun, das nur ein Dichter hätte beschreiben können – wenn überhaupt! Ein geheimnisvolles Braun, in dem jeder Mann versinken konnte, versinken wollte.
Jan kam sich vor wie in einer Art Trance. War er nicht gerade erst ziemlich angefressen und schlecht gelaunt in seinen neuen Kurs gelaufen? Und hatte er nicht soeben noch missmutig in der Küche gestanden und versucht, nicht an Lina zu denken – und was sie wohl gerade treibt und tut? Im fernen Tunesien.
„Jan Johannsen“, sagte er gedankenverloren, und im gleichen Moment landete das Kaffeepulver schon auf ihrem schicken Mantel. Herrje, so ein Missgeschick! Jan wollte ad hoc die Uhr zurückdrehen, so peinlich war ihm das gegenüber der Dame, die da in absoluter Perfektion gekleidet vor im stand. Und nun überall der Kaffee!