Das Gespenst der Karibik. Hans W. Schumacher
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Das Ebenbild des Präsidenten hielt es nicht lange an der Wand. Es rutschte aus dem zerschossenen Goldrahmen und faltete sich vor den Pantoffeln der Leiche zusammen. So war das Ensemble für die Ewigkeit aufbewahrt, in der er nun schwebte zwischen Blut und Marmelade, Autorität und Hörnchen, Gewalt und Kaffee. "Ich bin doch wirklich der größte...", das war sein letzter im Vollzug abgeschnittener Gedanke gewesen. Wie sollte es weitergehen: Feldherr, Politiker, Scharlatan, Schuft, Idiot? Jedenfalls war der Gedanke sinnlos, unvollendet breitete er sich im Nirwana aus. Das ganze übrige Seelenleben erstarrte wie ein stehengebliebener Film. Anwandlungen, Assoziationen, Gefühle, Vorstellungen standen stramm und wußten nicht mehr, ob sie weiter machen sollten oder nicht. Verwirrung und Anspannung hielten sich die Waage. Man kann sich das leicht vorstellen, denn etwas, das bei einer zielgerichteten Bewegung auf ein Hindernis stößt, legt seine Energie in eine andere Form von Kraft um, kinetische Energie wird Irradeszenz. Die erloschenen Lebensmomente des Generals glichen einer schlafenden Stadt, deren Lichter gespenstisch in der Nacht phosphoreszieren.
Der General hatte nie im Leben an Gespenster gedacht, sie in Betracht gezogen, ihnen etwas abgewinnen können. Das war ein verzeihlicher Fehler für einen Realpolitiker, aber er kostete ihn sein Leben. Er hätte die plötzliche lautlose Annäherung von Geistern gefürchtet, wenn er an sie geglaubt hätte. Die übliche Vorsicht und eine Leibwache, die im Keller frühstückt, reichen nicht aus. Wie dem auch sei, jetzt lag er da, im blutigen Morgenrock vornüber auf den Teller gebeugt. In seinen glasigen Augen spiegelte sich das Wedgewood-Geschirr, das er sich als Leutnant einmal gekauft und das ihn immer begleitet hatte: auf dem Feldzug gegen die aufständischen Indios, im Exil und im Präsidentenpalast.
Da lag er nun, der Stolz seiner Familie, der Diktator zum Wohl des Landes, das gefeierte Oberhaupt der Armee, der strenge Erzieher seines Volkes, dessen Porträt in allen Amts- und Schulstuben hing, und es war aus. Es war so gründlich zuende, als sei ein ganzes Erdzeitalter vorübergegangen. Denn wenn man einmal tot ist, spielt es keine Rolle mehr, ob man vor zwei oder vor fünf Millionen Jahren lebte. Aus der Zeit war er gefallen, er, der so schnell auf die Zeit reagieren konnte, der Mann der raschen Entschlüsse und der unerwarteten Wendungen, den nichts überraschen konnte, weil er alles schon vorher bedacht hatte.
Ein Dutzend Komplotte gegen ihn waren geplant, aber beizeiten aufgedeckt worden. Seine Geheimpolizei gehörte nun mal zu den besten, seit er unter seinem von ihm gestürzten Vorgänger das Ministerium des Inneren geleitet hatte. Nun aber war er doch überrascht worden, aber es ging ihn nichts mehr an. Inzwischen nahm ein neuer Generalissimus auf dem frei gewordenen Präsidentensessel Platz und schwor mal wieder die "neue Ordnung" zu verwirklichen, indem er zunächst alle lukrativen Staatsämter an seine Verwandten und Gefolgsleute verteilte.
Der tote Diktator hatte nun schon mehr in sich als den Geschmack von Ingwermarmelade und Gewalttat. Wie eine große Blase wuchs Erstaunen in ihm. Erstaunen darüber, daß er nichts mehr konnte. Da er nichts mehr tun konnte, konnte er auch nichts mehr wollen. Er, der alles dirigiert und manipuliert hatte, mußte nun alles mit sich geschehen lassen. Es war wie eine Geburt nach innen, eine irre Sanftmut überkam ihn. Die hatte er auch nötig, um ertragen zu können, was seine Nachfolger alles anrichteten, daß seine Republik sich veränderte, wie sie sogar einmal von der Landkarte verschwand, um dann doch wieder aufzutauchen, bis sich dort, wo sie war, im folgenden Erdzeitalter ein Meerbusen breit machte, der wiederum von Gebirgsbildungen verdrängt wurde und so fort, bis endlich die Sonne verlosch und alles Leben endete.
Über diesen Betrachtungen wäre die nächste Zukunft fast vergessen worden. Beinahe wäre unbemerkt geblieben, daß der General sich erhob und gleich wieder streckte, er lag auf einem reich geschmückten Katafalk, von vielen flackernden Kerzen umgeben, die die Hitze in der stickigen Atmosphäre der Barockkathedrale noch verstärkten.
Düsteren Blicks standen einige Anhänger mit gefalteten Händen vor diesem ehrwürdigen Beispiel von Größe, Pflichtbewußtsein und Tragik. Aber das Publikum für diese Demonstration von Vaterlandsliebe fehlte. Außer ein paar unwichtigen Personen, die hier Trauer vorführten, waren die Mitglieder der alten Junta heimlich verhaftet worden und warteten auf die Ausweisung durch eine milde gestimmte neue Regierung. Mit umflorten Augen sahen die Trauergäste durch die Domportale über den staubigen in der Sonne gleißenden Platz auf den Präsidentenpalast gegenüber, wo die schwankende Menge des Volkes den neuen Machthabern huldigte.
In den Zeitungen las man, der Verblichene sei einem Herzanfall zum Opfer gefallen. Dem General war die Lüge egal, als man ihn in seiner papageienbunten Paradeuniform in einen seidengefütterten Sarg von den Ausmaßen eines größeren Kahns legte, ihm war es egal, als man den Deckel über ihm schloß, ihm war es gleich, als der innere Kreis der übriggebliebenen Günstlinge der Rede eines dürren, in seiner Uniform schlotternden Zeremoniemeisters lauschten, der der Überzeugung war, der Verstorbene werde sich einst aus seinem Grab erheben, wie Kaiser Barbarossa in der bekannten deutschen Sage.
Ein Geheimagent der neuen Regierung, der hinter einer Säule verborgen diese Szene beobachtete, lächelte verächtlich in seinen Spitzbart hinein, der auf und abwippte, als er dem neuen Staatsoberhaupt berichtete, daß die Familie des Generals beschlossen habe, den Leichnam im Ausland zu beerdigen. Dem neuen Regierungschef war es recht, nur weit weg damit. Er ahnte nicht, daß Leonidas, der Bruder des Dahingegangenen, mit dem Leichnam im Gepäck noch einiges vorhatte.
Die Reliquie sollte dem Sohn des Generals als Ausweis dienen, wenn er in das Land zurückkehrte, um die Staatsgewalt wieder in die Hände ihrer rechtmäßigen Besitzer zu legen. Porfirio, der sich sein Leben lang nicht um Politik gekümmert hatte, war etwas flau zumute, wenn er daran dachte, wie er den Ambitionen von Leo und seinen Anhängern genügen sollte. Aber wie konnte er sich ihren Forderungen entziehen, wenn Papas Nummernkonto in der Schweiz von einem Onkel verwaltet wurde, der sich unbeugsam der Reaktion verpflichtet fühlte?
Der General war vor seiner Einsargung einbalsamiert worden. Er sollte auch nach Jahren noch passabel aussehen. Aber er war nur eine Hohlform, die man ausgoß, wie man es wollte. Für ihn, wenn man in seinem Zustand noch irgendeine Selbstbezogenheit besitzen kann, gab es wirklich nur noch Leere, in seinen Augen war alles unterschiedslos geworden. Er war haltlos wie die gräßlichen Hippies, denen er vor Jahren auf öffentlichen Plätzen von Militärfriseuren die Haare auf Stiftlänge hatte kürzen lassen. Er war schrankenlos, wie er es nie vorher gewesen war.
Gewiß, als er noch lebte, war er frei gewesen, aber nie ungebunden. So wie der Kopf auf dem Körper sitzt, so war er als Führer an den Staat gefesselt, dem er vorstand. Und wie der Körper nicht immer tut, was sein Gehirn ihm vorschreibt, so begehrte auch das dumme, gierige Volk immer wieder gegen die Herrschaft der Vernunft auf und mußte durch einen unbeugsamen Willen botmäßig gemacht werden. Wie der Mönch seinen Leib kasteit, so wollte der General sein Volk zu Gehorsam und Verzicht erziehen.
Nun da er tot war, geriet alles in ihm durcheinander, er verwechselte Geist und Materie, Vorsatz und Begierde, in ihm herrschte schlicht das Chaos. Jedem anderen hätte das gefallen können, nur ihm nicht. Aber da er willenlos und demütig geworden war, mußte er sich mit diesem Zustand abfinden. Was blieb ihm auch anderes übrig? Wenn man tot ist, ist man reine Verfügungsmasse. Das galt auch für die Einschätzungen, denen er jetzt seitens der politischen Öffentlichkeit ausgesetzt war: einige nannten ihn einen Volksfreund, für seine Gegner war er ein Unterdrücker, andere sagten, er sei eine Marionette der Amerikaner gewesen, obwohl er Unabhängigkeit geheuchelt habe, manche sahen in ihm den geopferten Messias spanischer Tradition usw.
Der klare südliche Himmel schien an dem Sommerabend, als der Sarg zum Flugplatz gefahren wurde, alles mit seiner wohltuenden dunkelblauen Substanz zu durchtränken. Der Äther versuchte auch den General zu erweichen, stieg aber auf etwas Undurchdringliches. Ganz tief in ihm lag der Mord, den konnte er nicht verwinden. Es grollte in ihm, Demut hin, Demut her. Dieser Mord, von dem er selbst eigentlich gar nichts wußte, so heimlich war er geschehen. Es war ein so geschwinder Mord