Miro. Christina Hupfer
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„Verwandt?“
„Papa, Opa?“
„Nein. Er ist ein Freund.“
„Wissen Sie, wo er seine Papiere hat? Sind die im Anorak? Ach ja, hier ist eine Brieftasche. Die nehmen wir mit.“
Weil sie ihn so verzweifelt anschaute, fügte er noch hinzu: „Wir bringen ihn jetzt ins städtische Krankenhaus. Sie können dort morgen nach ihm fragen.“
„Und Hund?“
„Den nehmen Sie. Hier, den Kittel kann er jetzt auch nicht gebrauchen“, meinte er noch, drückte ihr die dicke Steppjacke in die Hand und fing an, den Arztkoffer und weitere Utensilien zusammenzupacken.
„Aber...?“ Sprachlos kniete sie neben dem verstörten Tier, hielt sich an ihm fest, sah zu, wie die Tür sich hinter der Trage schloss, wie der Krankenwagen mit eingeschalteten Sirenen davon fuhr und der Menschenauflauf sich langsam auflöste.
Ob sie Johannes jemals wiedersehen würde? Wie in einer Wiederholungsschleife hörte sie den Sanitäter, der als letzter viel zu langsam eingestiegen war, gleichgültig sagen: „Schätze, den können wir eh nicht mehr lebend abliefern.“
Und dann sah sie, vielmehr hörte sie ihn, bevor sie ihn sah: Wladimir! Er stand mit ihrem Sammelbecher in der Hand, ihrem Sitzkissen und ihrer Tasche unter dem Arm an ihrem Stammplatz und schaute suchend in die Runde. Was machte der denn jetzt schon hier? Reflexartig wollte sie aufstehen und zu ihm hin gehen. Wieder ein Tag zu Ende. Wieder eine Strecke weiter auf ihrem Weg in die Hölle. Ein Schritt und noch einer, bis Rumos Leine sie abbremste. Um Himmels Willen, was sollte sie mit ihm machen? Ob sie ihn mit zu sich nehmen könnte? Aber wenn es Wladimir nicht passte? Sie durfte sich nicht vorstellen, was der mit ihm anstellen würde wenn er mitbekäme, dass er ihr etwas bedeutete. Wenn sie daran dachte, was er mit der kleinen Ratte von Mascha angestellt hatte! Vor kurzem hatte er sie ihr selbst geschenkt. Und gestern hatte er sie vor ihren Augen zu Tode gequält. Nach dem Vorfall, den sie heute Morgen beobachtet hatte, fürchtete sie sich noch viel mehr vor ihm und seinen Helfershelfern. Wenn denen nicht mal ein Menschenleben was bedeutete!
Vorsichtig zog sie sich zurück und suchte Schutz hinter einem sperrigen Gestell mit Blumentöpfen. Rumos sonst so fröhlich dreinblickende Augen, schwarz umrandet und auf der rechten Seite die dunkle Farbe verwischt, schauten kummervoll und hilfesuchend zu ihr hoch. Besser wäre es, sie würde ihn hier anbinden. Bestimmt würde ihn jemand zu sich nehmen. So ein lieber Hund. Er würde hoffentlich nicht zu lange hier ausharren müssen. Irgendjemand würde sich sicher erbarmen. Und wenn Johannes doch wieder gesund werden sollte, würde er ihn sicher finden. Mit zitternden Fingern knüpfte sie die Leine an den Fahrradständer, der sich hinter dem Regal mit blühenden Astern befand. Mühsam kam sie wieder hoch, wich den verständnislosen Blicken des Hundes aus, und zwang sich, auf Wladimir zuzugehen.
Der hörte gerade mit offenem Mund den letzten Wichtigtuern zu.
„Wo ist Frau? Sitzen hier“, drängte er sich blaffend in deren Gespräch.
„Weg ist die! Gott sei Dank.“ Einer der Angesprochenen wedelte mit einem Prospekt, ließ ihn stehen und wandte sich wieder den andern zu. „Alles nur Gesindel, nicht wahr? Wer weiß schon, was so jemand für Krankheiten mit sich rumschleppt. Stellen Sie sich vor, Sie müssten sich als nächstes auf diese Liege legen. Wie konnten die überhaupt so eine verwahrloste Kreatur damit transportieren? Wo die doch sowieso schon tot ist!“
„Tot?“, echote Wladimir und drängte sich wieder dazwischen.
„Tot! Hat mal einer der Sanitäter gesagt. Hirnschlag oder so was“, warf einer dem Mann in den unsäglichen Trainingsklamotten überheblich über die Schulter zu.
Miro zuckte zurück. Tot. War ihr einziger Freund, der ihr noch geblieben war, wirklich tot? Würde sie sich ab sofort, wenn sie wieder an diesen Platz gekarrt wurde, nie wieder darüber freuen können die beiden um die Ecke biegen zu sehen? Nie wieder Johannes Sprüche hören? Nie wieder seine schwielige Hand auf ihrer spüren?
Sie presste sich wieder in den Schatten des großen Blumengestells zu dem zaghaft wedelnden Rumo und konnte nicht anders, als ihn wieder los zu binden. Und sie verfolgte wie gelähmt wie Wladimir abzog, immer wieder kopfschüttelnd zurückschauend. Ihre Tasche immer noch unter den Arm geklemmt. Mit ihren ganzen Habseligkeiten, mit den Fotos ihrer Familie und mit Baba Doras liebevoll selbst gemachter Weste. Ihrer letzten Verbindung nach zuhause.
Nur ganz langsam wurde ihr bewusst, dass Wladimir einem Irrtum aufgesessen sein musste. Dass er meinte, die tote ‚Kreatur‘ wäre sie...
7
Fahles grünes Licht drang durch die Ritzen ihres kleinen Schutzraums. Vögel zwitscherten, Verkehrsgeräusche brandeten an ihre Ohren. Rumo kratzte unruhig winselnd an der Tür. Erschrocken setzte sie sich auf, und noch im Halbschlaf stürzten die ganzen gestrigen Geschehnisse auf sie ein. Mühsam versuchte sie ihre Gedanken zu klären. Panik befiel sie. Sie musste irgendwann eingeschlafen sein und hatte noch keinen Plan, wie es nun weitergehen sollte. Hier jedenfalls konnten sie nicht bleiben. Bald würde das Tor aufgeschlossen, und der Wärter würde sie ganz sicher verscheuchen.
Sie konnte nur hoffen, dass die Bande nicht nach ihr suchte. Dass Wladimir glaubte, sie sei wirklich das Opfer im Krankenwagen gewesen. Wenn sie an
Johannes dachte, wurde ihr ganz elend, aber in ihrem Innern kam auch eine leise Freude auf. So leicht würden Wladimir und Konsorten nicht herausfinden können, was mit ihr geschehen war. Die würden sich hüten, offiziell nach ihr zu forschen. Für die wollte sie tot sein. Tot! Es gäbe keinen Grund mehr, ihre Familie zu bestrafen. Aber sie durfte nicht in dieser Stadt bleiben. Irgendwann würde einer sie erkennen. Sie brauchte Ruhe zum Nachdenken. Etwas zu essen, Geld. Hektisch schaute sie in die Tüte mit Johannes Einkäufen, die sie gestern noch in dessen Rucksack hatte hineinstecken können. Das reichte für ein, zwei Tage. Vielleicht war unten im Sack noch etwas mehr. Auch für Rumo. Sie prüfte noch einmal seine Pfote, in die er sich gestern bei dem Versuch zu seinem Herrchen in den Krankenwagen zu gelangen, eine Scherbe getreten hatte.
„Sieht ganz gut aus, mein Kleiner. Ich hoffe, du kannst laufen?“
Sie musste zu ihrer Mauer! Da steckte immerhin ein wenig Geld. Jetzt sofort! Bevor die Bande wieder ausschwärmte. Sie schnallte Johannes zusammengerollte Jacke oben auf den Rucksack, schulterte ihn und lief los, um sich direkt hinter der Hecke am Eingang zu verstecken. Bestimmt würde bald jemand kommen, um das Tor aufzuschließen.
„Komm, mein Lieber. Schön ruhig.“
Es war keine Minute zu früh, denn wie sie durch die Gitterstäbe erkennen konnte, schob gerade unten an der Friedhofsmauer ein uniformierter Mann ein klapperndes Fahrrad um die Ecke.
„Warte!“
In Windeseile rannte sie zurück und durchwühlte noch einmal den Abfallhaufen bis sie fand was sie suchte. Dann huschte sie mit ihrem Schützling schnell an dem perplexen Mann vorbei, der in diesem Moment die Pforte aufgeschlossen hatte und ihnen wütend hinterher brüllte.
Verzweifelt versuchte sie, den Ort wieder zu finden, von dem sie gestern so unvorhergesehen aufgebrochen war. Sie wusste nur, dass sie stetig bergauf gelaufen waren. Aber diese Stadt war groß und fremd. Die wenigen Leute, die bereits unterwegs waren, musterten sie neugierig. Sie sahen eine große dünne Gestalt