Von den Göttern verlassen IV. Sabina S. Schneider

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Von den Göttern verlassen IV - Sabina S. Schneider страница 4

Автор:
Серия:
Издательство:
Von den Göttern verlassen IV - Sabina S. Schneider

Скачать книгу

ein sehr großes Wort für eine Abschlussfeier von fünf Abgängern. Sie waren mit sechzehn nun im Erwachsenenalter und bereit für den Ernst des Lebens. Keine Schulbank mehr drücken. Doch Lucel mochte die Schule und für ihn gab es nichts zu feiern. Während dem Unterricht konnte man sich einfach hinter einem Buch verstecken und schlafen. Jetzt musste er sich mit der Zukunft beschäftigen, Arbeit, Karriere, Lebenserwartungen, Wünsche und Hoffnungen.

      „Vater wird schon ungeduldig“, Lucels Ohren zuckten leicht. Er rieb sich über die leicht zugespitzte Kante.

      „Mutter wartet!“ Selena seufzte innerlich, als Lucel sofort auf die Beine sprang und rief: „Warum trödelst du? Wir müssen los!“ Es war ein Wunder, dass er anstatt gleich loszusprinten, Selena ungeduldig die Hand hinhielt, um ihr aufzuhelfen.

      Für Mutter tat Lucel alles.

      Wenn er die Wahl zwischen ihrer Mutter und Selena hätte, würde er sich für ihre Mutter entscheiden. Das stand außer Frage. Selena ergriff beleidigt Lucels Hand. Seine Finger waren schlank, aber stark. Er zog sie mühelos in die Höhe. So schwungvoll, dass Selena das Gleichgewicht verlor und gegen seine Brust fiel. Sie hörte sein Herz schlagen und ihr Puls raste, presste das Blut schneller durch ihre Adern.

      „Selena! Benimm dich! Ihr seid Geschwister!“, raunte sie sich selbst gedanklich zu und stopfte der Stimme den Mund mit einem erdachten, stinkigen Socken, die ihr leise ins Ohr säuselte: „Er ist nicht dein leiblicher Bruder.“ Ihr Vater würde sie steinigen, wenn er wüsste, dass sie Gefühle für Lucel hatte, die über Geschwisterliebe hinausgingen. Auch wenn ihre Mutter Freudentänze aufführen würde. Seit dem Tag, als sie sich das erste Mal begegnet waren, hatte Laura ihre Tochter in Lucels Arme getrieben. Wortwörtlich! Geschubst hatte sie sie und das nicht nur einmal. Allein um dem selbstgefälligen Lächeln ihrer Mutter nicht ausgesetzt zu werden, würde Selena nie zugeben, dass der Plan aufgegangen war.

      Auch wenn es ihr schwer fiel, einfach dabei zuzusehen, wie die kleinen Weibsbilder des Dorfes sich Lucel anbiederten, ihm Geschenke machten und leise kicherten, wenn er vorbeiging. Sogar die Jungs rauften sich um den Platz neben ihm in der Klasse.

      Verächtlich verzog Selena das Gesicht. Niemand von ihnen hatte Lucels Großartigkeit gesehen, bevor er, der schmächtige Junge, der immer nur apathisch in die Gegend glotzte oder schlief, Marikal die Stirn geboten hat.

      Marikal war der größte Junge im Dorf und ein bulliger Macho, dem es Spaß machte, Kleinere zu ärgern, vor allem Mädchen. Eines Tages hatte er Selena zu seinem Opfer auserkoren und sie so lange an den Zöpfen gezogen, bis sie weinte. Lucel war in aller Ruhe zu ihm hingegangen, hatte ihn am Hals gepackt und solange in der Luft gehalten, bis Marikal keuchend um Verzeihung bettelte.

      Er war der Held des Tages, der Schule und vor allem Selenas Held gewesen. Selena hatte nie wieder Probleme mit Marikal oder irgendeinem anderen Jungen. Und an jenem Tag war in ihren Augen ihr kleiner Ziehbruder von einem folgsamen Hündchen, das dem kleinen Mädchen überall hin folgte, zu einem begehrten Objekt des anderen Geschlechtes geworden. Sie hatte sich doch tatsächlich mit sieben Jahren in den kleineren, verträumten Lucel verliebt.

      Eine Schwärmerei, aus der sie mit den Jahren hinauswachsen würde, pflegte sie sich zu sagen und huldigte Lucel in aller Stille an ihrem geheimen Schrein, ohne ihm ihre Gefühle zu gestehen. Sie wartete jeden neuen Frühling darauf, dass ihr Herz nicht mehr verräterisch klopfen und sie nicht bei jeder Berührung zusammenzucken würde. Doch in den neun Jahren wuchs Lucel, überholte Selena und wurde zu einem attraktiven Jungen, der nicht mehr nur ihr Herz höher schlagen ließ.

      Selena machte sich schnaubend von Lucel los und stampfte, dicht gefolgt von ihrem Stiefbruder, zu dem Holzhaus, das sich auf einer Anhöhe im kleinen Dorf Krem befand. Ungeduldig wurde sie von Frau Schimmerlin empfangen, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters immer noch den Schülern mit schwingender Rute hinterherrannte.

      Sie zeterte laut vor sich hin und scheuchte die beiden Zuspätkommer durch die Tür in den Klassenraum. Alle Stühle waren besetzt, viele Eltern standen. Laura Oberson jedoch saß auf ihrer alten Schulbank in der ersten Reihe und winkte ihren beiden Kindern aufgeregt wie ein kleines Schulmädchen entgegen.

      Selena blickte peinlich berührt zur Seite, während Lucels Augen in einem ungewohnten Glanz erstrahlten.

      Wie schon so oft fragte sich Selena, wie sie mit ihrem ruhigen, würdevollen und eleganten Wesen nur von dieser kindischen Person abstammen konnte? Ein leiser Zischlaut entschlüpfte ihren Lippen, als Lucel lächelnd zurückwinkte. Das musste ein Irrtum sein. Lucel war Lauras leiblicher Sohn und Selena war eine weit entfernte, adoptierte Cousine, nicht umgekehrt.

      Ein Blick in Lucels schläfriges Gesicht sagte Selena, dass sie wieder die Stunden, in denen sich Frau Schimmerlin in Rage reden und gerührt von ihren eigenen Worten weinen würde, damit verbringen durfte, Lucel mit Elenbogenstößen wachzuhalten. Wie konnte man nur so viel schlafen? Ergeben in ihr Schicksal, stellte sie sich neben die anderen drei Absolventen und hielt ihren Ellbogen bereit. Wie gelang es Lucel nur im Stehen einzuschlafen?

graphics1

      Für das kleine Dorf Krem war das Haus der Obersons so groß wie ein Anwesen. Als Merez Oberson die Aufgabe des Obermeisters seinem Schwiegersohn überließ, zog er mit seiner Frau aus dem Hauptgebäude in ein Nebenhaus. Wie so oft, aßen sie auch heute alle gemeinsam zu Abend. Merez und Linda, Laura Oberson mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern. Dass Lucel nicht ihr leiblicher Enkel war, ließen sich die stolzen Großeltern nicht anmerken. Nach dem Essen verabschiedeten sie sich und Laura machte es sich wie immer mit ihrem Mann, Selena und Lucel vor dem Kamin bequem.

      Selena würde es nie offen zugeben, aber sie liebte diesen Moment. Wie Kinder lümmelte sie sich mit Lucel auf den Fellen am Boden vor dem Kamin. Obwohl sie bereits Spätfrühling hatten, waren die Abende noch kühl und die Nächte kalt.

      Selena starrte ins knisternde Feuer, beobachtete die Flammen bei ihrem Tanz, während Lucel mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag und vermutlich schlief. Sicher konnte man sich da nie bei ihm sein. Er erinnerte Selena an einen großen, zotteligen Hund oder einen toten Käfer, wenn er so auf dem Rücken lag, alle Viere von sich gestreckt. Manchmal musste sie bei dem Anblick auch an eine hilflose Schildkröte, die auf dem Rücken lag und sich alleine nicht umdrehen konnte, denken.

      Sanil Oberson, der den Namen seiner Frau angenommen hatte, einfach weil Laura den Klang Oberson besser gefiel als Wandik, lag ausgestreckt auf dem Sofa, während seine Frau im Schaukelstuhl saß und wieder einmal etwas strickte. Auch wenn der Winter vorbei war, würde der nächste mit Sicherheit kommen, pflegte sie zu sagen. Es dauerte nie lange, bis Laura mit dem Geschichtenerzählen begann. Auch heute nicht. Mit einem Lächeln der Erinnerung auf den Lippen räusperte sie sich und entführte die Familienmitglieder in eine fremde Welt.

      Lucel spitzte seine Ohren, Selena kuschelte sich tiefer in das Bärenfell und Sanil legte sein Buch zur Seite, um der schönen Stimme seiner Frau zu lauschen. Sie alle kannten die Geschichte. Hatten sie schon tausendmal gehört. Und doch freuten sie sich jeden Abend darauf.

      „Vor nicht allzu langer Zeit lebte in einem abgelegenen Dorf ein junges Mädchen namens Serena. Da ihr Vater verschwand, als sie noch sehr klein war, wohnte sie alleine mit ihrer Mutter in einer Hütte am Dorfrand. Obwohl Serena mit ihren schwarzen Locken und Augen in der Farbe des Himmels eine wahre Schönheit war, mieden die Dorfbewohner sie. Denn sie war immer ernst, lachte nie und weinte nicht. Alara, Serenas Mutter, war eine große Heilerin und hatte schon so manches Leben in dem kleinen Kreis der Gemeinschaft gerettet. Dennoch mieden die Bewohner auch sie, da auch sie nie lachte und nicht weinte. Doch die beiden machten sich nichts aus menschlicher Nähe und lebten in Ruhe vor sich hin.

      

Скачать книгу