Die Arche der Sonnenkinder. Jörg Müller

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Die Arche der Sonnenkinder - Jörg Müller

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heller leuchtete und phasenweise stark und weit sichtbar pulsierte. Die Männer sorgten für die Nahrung, die in der Hauptsache aus Pflanzen, Kräutern, Früchten, Blumen und Nüssen bestand. Die Frauen waren für die Erziehung des Nachwuchses und das Funktionieren des kleinen Gemeinwesens verantwortlich. Sie trugen kurze bunte Kleider und die Männer kurze braune Röcke. Beides stellten die Frauen aus sehr strapazierfähigen und wetterfesten Pflanzen her. Eine Fußbekleidung war den Sonnenkindern unbekannt.

      Das Volk der Sonnenkinder lebte am südlichen Rand des Waldes innerhalb des Felsrings in der Nähe einer Lichtung, in deren Mitte ein kleiner, von großen Bäumen eingefasster See lag. Die Sonnenkinder waren sehr gute Kletterer und wohnten auf der Innenseite des Felsringes in unterschiedlichen Höhen in kleinen Höhlen, in denen es Wasserquellen gab. Wie im Norden hatte der Felsring einen versteckten Zugang, durch den die Sonnenkinder den Wald jederzeit betreten, beziehungsweise verlassen konnten. Aber im Gegensatz zum Norden erfolgte dieser Zugang zu ebener Erde durch eine fünf Meter hohe und drei Meter breite Felsspalte, die im Querschnitt wie ein W aussah und dessen Schenkel alle eine Länge von zehn Metern hatten. Die Felsaußenwand war im Bereich der Öffnung auf einer Breite von 50 Metern und einer Höhe von zwanzig Metern durch ein enges Geflecht aus Schlingpflanzen bedeckt, die den Zugang zum Wald vor den Augen Unbefugter verbargen. Im ersten Abschnitt des Zugangs hingen Lianen von der Decke, die bis zur Erde reichten und die hindurchgehenden Sonnenkinder in der gleichen Art und Weise berührten, wie die Textilbänder die Autos in der Waschstraße während des Waschvorgangs. Diese Lianen hatten als Wächter die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass von außen keine Schädlinge in den Wald gelangten, die die Existenz des Waldes gefährden konnten. Da der Boden vor dem Geflecht aus Schlingpflanzen aus blankem Fels bestand, hinterließen die Sonnenkinder beim Verlassen und Betreten des Waldes keine Spuren, so dass eine Entdeckung des Zugangs für Dritte nahezu unmöglich war.

      Wenn die seltenen Regenfälle die angrenzende Wüste in ein Blumenmeer verwandelten, schwärmten die männlichen Sonnenkinder aus, um besondere Blumen und Kräuter zu sammeln, die es im Wald nicht gab und die sie als Medikamente verwendeten, um Krankheiten jeder Art zu heilen.

      Die männlichen Sonnenkinder waren von der Natur mit der Gabe ausgestattet, Wasser „riechen“ zu können. So fanden sie auch in Trockenzeiten auf ihren Streifzügen durch die Wüste immer ausreichend Wasser. Da sie einen gut ausgeprägten Orientierungssinn besaßen, auch im Dunkeln gut sehen konnten und sehr ausdauernd waren, konnten sie auf ihren Streifzügen große Strecken zurücklegen.

      Die Sonnenkinder glaubten, dass Mutter Natur sie geschaffen hatte und zu jeder Zeit ihre schützende Hand über sie hielt. Sie lebten mit der sie umgebenden Natur in völligem Einklang und begegneten allen Tieren und Pflanzen des Waldes mit dem größten Respekt und wurden von diesen ebenfalls respektiert. Ihr Leben endete nach 50 Jahren.

      Eine Besonderheit war die Nachfolgeregelung für das Amt der Weisen Mutter. Mutter Natur hat es so eingerichtet, dass immer dann eine Nachfolgerin geboren wurde, wenn die aktuelle Weise Mutter das 30. Lebensjahr vollendet hatte. Die potenzielle Nachfolgerin erkannte man dadurch, dass sofort nach der Geburt der kleine weiße Fleck auf der Stirn der Neugeborenen sehr stark pulsierte und auffällig hell leuchtete. Das neugeborene Mädchen blieb bis zum zehnten Lebensjahr bei ihrer leiblichen Mutter und zog dann zur Weisen Mutter, die die weitere Erziehung übernahm, um die zukünftige Weise Mutter an ihre Aufgabe, das kleine Volk der Sonnenkinder und die Tierwelt innerhalb des Felsrings verantwortungsbewusst und gerecht zu regieren, heranzuführen. Von diesem Zeitpunkt an wurde das Mädchen die Weise Tochter genannt. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase nahm die Weise Mutter das Mädchen mit in den Wald, um ihm die Bewohner vorzustellen und den Tieren und Pflanzen die Gelegenheit zu geben, sich an ihre zukünftige Königin zu gewöhnen. Dabei lernte die Weise Tochter auch die besonderen Eigenschaften und Eigenarten der einzelnen Pflanzen und Tiere kennen und erfuhr, welche Aufgabe jedes Tier und jede Pflanze jeden Tag erfüllen musste, damit das natürliche Gleichgewicht innerhalb des Felsrings jederzeit gewährleistet und der Erhalt des Waldes, der die Lebensgrundlage für alle bildete, sichergestellt war. Die Weise Tochter lernte weiterhin, dass sie nicht in die von Mutter Natur vorgegebenen Strukturen im Wald eingreifen durfte, es sei denn, es lag ein Notfall vor. Diesen Notfall erkannte jede Weise Mutter instinktiv und wusste sofort, wie sie dann zum Wohle aller Bewohner reagieren musste. Der letzte Notfall lag allerdings schon sehr viele Jahre zurück. Durch einen Waldbrand drohten mehrere Termitenvölker vernichtet zu werden. Die Weise Mutter rettete gemeinsam mit den Sonnenkindern große Teile der Termitenstaaten. Von diesem Zeitpunkt an hielten sich mehrere „Delegationen“ dieser Völker aus Dankbarkeit immer in der Nähe der Höhle der Königin auf, um sie gemeinsam mit anderen Insektenvölkern zu beschützen.

      Während der gemeinsamen Besuche des Waldes beobachtete die Weise Mutter genau, wie sich die Weise Tochter gegenüber den Tieren und der Pflanzenwelt verhielt, und ob sie auch von allen Tieren akzeptiert wurde. Das Letztere konnte sie an der Geräuschkulisse abschätzen, die die einzelnen Tierarten verursachten, wenn die beiden Menschen den direkten Lebensraum der Tiere betraten und wieder verließen. Bis in die heutige Zeit war es noch nicht vorgekommen, dass eine Weise Tochter von den Tieren abgelehnt wurde. War die Weise Mutter sicher, dass die Weise Tochter alle Voraussetzungen erfüllte, um ihre Nachfolgerin zu werden, begann sie damit, alle wichtige Informationen, die den Fortbestand des Volks der Sonnenkinder betrafen, an die Weise Tochter weiterzugeben. Dabei handelte es sich zum einen um besondere medizinische Kenntnisse, die es nur der Weisen Mutter ermöglichten, die Sonnenkinder, aber auch die Tiere, bei besonderen Krankheiten zu heilen. Und zum anderen ging es um zwei Prophezeiungen. Die erste erwähnte einen sehr großen fremden Mann, der von Mutter Natur gesandt wird und aus der Sonne vom Himmel herabsteigt, um die Sonnenkinder aus einer großen Gefahr, die von außen droht, zu retten. Die zweite Prophezeiung berichtete davon, dass in ferner Zukunft ein männliches Sonnenkind geboren wird, das sehr viel größer als alle anderen männlichen Sonnenkinder ist, dessen weißer Fleck auf dem Bauch ähnlich hell leuchtet wie der Fleck auf der Stirn der Weisen Mutter und ebenso stark pulsiert. Dieser Mann wird das Matriarchat beendenden, der erste Weise Vater der Sonnenkinder werden und sein Volk in eine neue Zukunft führen.

      Seit Menschengedenken hatte sich nichts im täglichen Ablauf der Sonnenkinder geändert. Bis vor siebzig Jahren etwas geschah, was das Leben dieses kleinen Volks erstmalig aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte. Wie von Mutter Natur vorgesehen, wurde ein Mädchen geboren, das alle Merkmale aufwies, die darauf hindeuteten, dass sie später die neue Weise Mutter werden würde.

      Aber ein Jahr später wurde wieder ein Mädchen geboren, das die gleichen Merkmale aufwies. Die damalige Weise Mutter hatte dafür keine Erklärung und beschloss, erst einmal abzuwarten. Die beiden Mädchen entwickelten sich völlig unterschiedlich. Das jüngere Mädchen wuchs schneller und ihr weißer Fleck leuchtete heller. Als das ältere Mädchen zehn Jahre alt wurde, zog es zur Weisen Mutter, die sofort mit der Erziehung ihrer potenziellen Nachfolgerin begann. Als die Weise Mutter erstmals mit der Weisen Tochter für mehrere Tage tiefer in den Wald ging, war sie sehr aufgeregt und neugierig, wie die Tiere auf das Mädchen reagieren würden. Denn sie war sich immer noch nicht sicher, welches der beiden Mädchen von Mutter Natur als ihre Nachfolgerin vorgesehen war. Als die Tiere völlig normal auf das Mädchen reagierten, fiel eine große Last von ihren Schultern und sie beschloss, sich ab sofort mit aller Kraft auf die Erziehung der Weisen Tochter zu konzentrieren.

      Die beiden Mädchen verstanden sich sehr gut, und die anderen Sonnenkinder schien es nicht weiter zu interessieren, dass es in ihren Reihen zwei Mädchen gab, die die Merkmale einer Weisen Tochter besaßen.

      Aber das jüngere Mädchen wurde von Tag zu Tag unglücklicher. Es war jetzt über zehn Zentimeter größer als alle erwachsenen weiblichen Sonnenkinder und sein weißer Fleck strahlte mittlerweile auffallend hell. Wenn das Mädchen besonders traurig war, ging es tief in den Wald hinein und blieb dort den ganzen Tag. Es beobachtete alle Tiere und betrachtete alle Pflanzen. Die Tiere ließen das Sonnenkind gewähren und kümmerten sich nicht weiter um das Mädchen. Nur die Vögel und viele Insektenarten suchten seine Nähe und umschwärmten es. In diesen Augenblicken fühlte sich das Mädchen eins mit der Natur

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