Weltenlied. Manuel Charisius
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Читать онлайн книгу Weltenlied - Manuel Charisius страница 4
»Ich meine den Fleck auf deiner Hose. Da, am Oberschenkel, siehst du?«
Mist, schoss es ihm durch den Kopf. Hätte er doch nur besser aufgepasst, als er am Ofen herumhantiert hatte! Fahrig wischte er über die Aschespur, die nicht daran dachte zu verschwinden.
»Wie sieht’s denn aus mit der Milch, ist die noch frisch?«, brummelte jemand hinter ihnen. Léun hatte die Anwesenheit seines Großvaters angesichts des Mädchens komplett vergessen.
Eine Handbewegung, die Milch wechselte den Besitzer. Ein Lächeln, ein Winken, die Tür schloss sich. Ihm wurde klar, dass er sich Ciára gegenüber idiotischer und unhöflicher angestellt hatte als jemals zuvor.
»Setz dich ein Weilchen zu mir«, schlug sein Großvater mit funkelnden Augen vor. »Was hast du heute sonst noch vor, außer angeregt mit Ciára zu plaudern?«
Léun murmelte etwas von Baden im Mittleren See.
»Geht in Ordnung, aber sei vor dem Gewitter am späten Nachmittag zurück.«
Ihm war schleierhaft, woher der alte Mann jeden Tag aufs Neue wissen konnte, wie sich das Wetter entwickeln würde. Schon gar, wo doch die Sonne heute von einem wolkenlosen Himmel auf Grüntal hinunter lachte!
»Danke übrigens der Nachfrage, ich habe sehr gut geschlafen.«
Léun grinste verschmitzt und schämte sich ein wenig.
»Oder das, was man in meinem Alter sehr gut nennt«, fuhr Lóhan augenzwinkernd fort. »Weißt du, wenn man ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat, dann ist man froh und dankbar für jeden Moment, den man in dieser Welt noch wach und bewusst erleben darf.«
»Und gesund«, ergänzte Léun abwesend. Ciáras Worte klangen ihm noch ebenso im Ohr wie ihre glockenhelle Stimme.
»Genau!« Die blauen Augen seines Großvaters strahlten. »Du weißt es, nicht wahr? Ich meine, dass Gesundheit das höchste Gut im Leben ist?«
Léun hatte die Frage nicht gehört und nickte.
»Ich erinnere mich noch genau, als dein Vater so alt war wie du jetzt, da …« Plötzlich wurde der Alte ernst. Er starrte ihn an, und seine Augenlider zuckten.
»Was?«, wollte Léun wissen. Es war nicht das erste Mal, dass sein Großvater Anstalten machte, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Alles, was er bislang wusste, war, dass sein Vater als Jugendlicher fast gestorben wäre.
»Bei Fuertýna … Göttin der Saat und der Ernte«, sagte Lóhan stockend und mit gesenkter Stimme. »Du bist ihm so ähnlich, nicht äußerlich zwar, aber Láhen … fast scheint es mir, als ob ich zum zweiten Mal …« Er unterbrach sich erneut. Auf einmal fasste er Léun über den Tisch hinweg bei der Schulter und musterte ihn eindringlich.
»Versprich mir eins«, fuhr er mit bebender Stimme fort, »wenn du eines Tages hier in Grüntal eine Hütte hast, und eine Frau, und vielleicht einen Sohn …«
»Ja? Was dann?«
»Lass sie nicht im Stich, hörst du? Lass deine Familie nicht allein zurück wie Láhen, dieser Nichtsnutz. Versprichst du mir das?«
Fast hätte Léun genickt und es ihm versprochen.
Láhen, dieser Nichtsnutz!
»Er war kein Nichtsnutz«, brauste er auf und schüttelte Lóhans Hand von seiner Schulter. Dieser starrte ihn verdutzt an.
»Aber ich meinte doch nur …«
»Mein Vater ist kein Nichtsnutz!«, wiederholte Léun, warf beim Aufspringen seinen Stuhl um und polterte aus der Hütte. Die Tür warf er krachend hinter sich ins Schloss.
Er fühlte sich erst besser, als er, das Dorf Grünhag im Rücken, die halbe Wegstrecke zum Mittleren See hinter sich gebracht hatte. Um diese Tageszeit pflegten bei Sonnenschein viele Leute dort einzutrudeln. Ihm war danach, die Gesichter seiner Freunde zu sehen, ihre Stimmen zu hören und Neuigkeiten auszutauschen. Stán war meistens da und auch Néna und Mían, die Zwillinge aus Süderhag. Am meisten hoffte Léun jedoch, seinen besten Freund Arrec aus Mittelhag zu treffen. Der wusste immer allerlei verrücktes Zeug zu berichten und war nie abgeneigt, irgendwelchen Unsinn anzustellen.
Zu seiner Enttäuschung war Arrec noch nicht gekommen, und auch von den anderen konnte Léun niemanden am See entdecken. Nur ein paar kleine Kinder planschten kreischend vor Vergnügen im flachen Uferwasser, während ihre Mütter etwas weiter draußen Kleider wuschen.
Vermutlich war er heute einfach zu früh dran. Er beschloss, um den See herumzulaufen. So würde er nicht nur die Zeit totschlagen, sondern auch an Mittelhag vorbeikommen, dem Dorf am Nordufer. Vielleicht konnte er Arrec von zu Hause abholen – vorausgesetzt, dieser verbrachte nicht den ganzen Tag über mit seinem Vater Erric in den Grünen Auen. Erric trieb mit den Reisbauern von Bergau regen Handel und ließ Arrec das Getreide säckeweise zurück nach Grüntal schleppen, um die zwei Goldmünzen Leihgebühr für einen Ochsenkarren zu sparen. Léun wusste, dass sein Freund diese Arbeit hasste wie nichts auf der Welt.
Nach einer Weile drang das alarmierte Gebell von Grantis Hunden an seine Ohren. Granti, eine weißhaarige Alte mit den Augen und Ohren eines Luchses und der Zunge einer Schlange, hauste allein in einer umzäunten Hütte am Westufer des Sees. An nichts und niemandem pflegte sie ein gutes Haar zu lassen. Die Menschen seien schlecht, das Wetter sowieso, ja selbst die prächtigen Blüten in ihrem Garten waren ihr in einem Jahr zu mickrig, im nächsten zogen sie lästige Bienen und angeblich auch Blumendiebe an.
Wie das gehen sollte, war Léun schleierhaft. Zwei riesenhafte schwarzbraune Köter bewachten Grantis Garten. Wenn jemand vorbeikam, benahmen sie sich schlimmer als die rüpelhafte Garde vor dem Palast von Sonnenau im Nachbartal. Léun mochte keine Hunde, und bei denen von Granti beruhte das wohl auf Gegenseitigkeit. Wann immer er an ihrem Grundstück vorbeikam, sprangen sie an der Innenseite des Zauns hoch, überschlugen sich in drohendem Gekläff und schienen sich vor Raserei fast gegenseitig zerfleischen zu wollen.
Auch diesmal wurde er von den beiden kalbsgroßen Ungeheuern verbellt, dass ihnen der Schaum nur so von den Lefzen sprühte. Natürlich hatte er sich vergewissert, dass das Gatter geschlossen war, bevor er sich Grantis Reich überhaupt zu nähern wagte. Man sagte zwar, dass Hunde, die bellten, nicht bissen, aber Léun war nicht erpicht darauf zu überprüfen, ob die beiden Exemplare der Alten sich auch daran hielten.
Als er an ihrem Zaun fast vorbeigegangen war, riskierte er einen Blick in Grantis Garten. Eine rostige Schere in den Klauen, stand die Alte vor ihren Stockrosen und kappte die schönsten Blütenkelche, bestimmt um sie drinnen in eine Schale mit Wasser zu legen. Sie hatte innegehalten, um auf die Hunde einzureden, die sich nicht im Mindesten darum scherten. Als sie Léuns Blick bemerkte, keifte Granti ihn fast noch lauter an.
»Mach, dass du weiterkommst, du Strolch! Siehst doch, dass Lóbo und Çerbero ganz verwirrt sind. Aus, ihr Burschen! Platz! Gleich kehrt hier wieder Ruhe ein.«
Léun zog ihr eine lange Nase und beeilte sich, Grantis Revier hinter sich zu lassen.
Doch sie hatte die Grimasse gesehen.
»Dir werd ich Beine machen«, kreischte sie über das Knurren und Bellen