Weltenlied. Manuel Charisius

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Weltenlied - Manuel Charisius Saga der Zwölf

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war niemand zu sehen.

      Kurzerhand schleuderte er sämtliche Kleider von sich und watete langsam in den Teich hinein, um sich an das eiskalte Wasser zu gewöhnen. Es reichte ihm immerhin bis zum Bauchnabel. Er hielt beide Hände in den Wasserfall und löschte seinen Durst, tat einen weiteren Schritt und stellte sich direkt darunter. Als das kühle Nass über seine Schultern rann, stockte ihm für einen Moment der Atem.

      Das Wasser nahm seinen Schweiß und den klebrigen Geifer der Hunde mit sich fort. Es überspülte seine brennenden Schrammen, bis die Kühle den Schmerz völlig betäubte. Léun hatte seinen inneren Gleichmut wiedergewonnen. Noch einmal schöpfte er Wasser und schüttete es sich ins Gesicht. Er lehnte sich mit beiden Händen gegen den Felsen und legte das Kinn auf die Brust, so dass ihm das Wasser auf den Hinterkopf prasselte. Er schloss die Augen, genoss die klare, reine Kälte des Stroms und stand eine Weile da, ohne zu denken.

      Mit einem Mal überkam ihn das untrügliche Gefühl, beobachtet zu werden. Ruckartig hob er den Kopf, wandte sich um und wischte sich mit einer Hand das Wasser aus dem Gesicht. Niemand war zu sehen, nicht einmal ein Tier. Der Pfad und der ganze Hügelkamm, soweit er ihn überblicken konnte, lagen still und verlassen da. Trotzdem – höchste Zeit, dass er sich wieder aufmachte. Mit langen Schritten ging er zurück zum Ufer, stieg aus dem Wasser und schüttelte sich die Nässe aus den Haaren.

      Wo war seine Hose? Er hatte sie über eine Baumwurzel geworfen, keine drei Schritt vom Teichufer entfernt. Auch sein Hemd und seine ledernen Sommerschuhe waren verschwunden. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Er ging um den Stamm des Baumes herum, suchte den Waldboden mit hastigen Blicken nach seinen Kleidern ab. Nichts. Er blieb stehen, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

      »Arrec?«, rief er auf gut Glück. »Stán?«

      Niemand antwortete.

      »Verflixt nochmal«, murmelte Léun ärgerlich. Solche Späße konnte er überhaupt nicht leiden, zumal sich die Sonne mittlerweile ganz hinter die Wolken verzogen hatte. Der Himmel war grau, stellenweise schwärzlich. Fahles Zwielicht und stickige Hitze herrschten unter dem Blätterdach des Grünwalds. Es war vollkommen still. Nur in seinem Rücken plätscherte der Wasserfall. Er musste sich endlich auf den Heimweg machen, wollte er noch rechtzeitig vor dem Gewitter zu Hause sein!

      Da kam ihm eine Idee. Seine Freunde, wenn sie es denn waren, hatten all seine Sachen geklaut und sich unbemerkt hinter den Löwenfelsen verzogen. Natürlich! Jetzt lachten sie sich ins Fäustchen und warteten nur darauf, dass er ihnen seine Kleider, nackt, wie er war, wieder abzujagen versuchte. Blöde Kindsköpfe. Den Spaß würde er ihnen gründlich verderben.

      Plötzlich kribbelte es ihn unangenehm zwischen den Schulterblättern. Da musste jemand direkt hinter ihm stehen. Er wandte den Kopf.

      Niemand. Léun war das einzige menschliche Wesen in diesem Wald.

      Doch sein Gefühl sprach dagegen. Langsam drehte er sich um die eigene Achse. Die Wasseroberfläche des Quellteichs sah wieder so schwarz und ölig aus wie vorhin, als er angekommen war. Vor Grauen stellten sich ihm am ganzen Körper die Haare auf.

      Er war nicht allein, soviel stand fest. Doch wo waren die anderen? Zitternd ließ er den Blick den Wasserfall entlang bis zur Spitze des Felsens hinauf schweifen.

      Léun erstarrte.

      Dort oben war jemand. Oder vielmehr, etwas.

      Das muss ein Traum sein, schoss es ihm durch den Kopf. Ganz ruhig, gleich wirst du aufwachen.

      Hinterher konnte er nicht sagen, wie lange er vor Angst wie gelähmt dastand und das Wesen anstarrte, das da aufrecht auf dem Felsen thronte und ihn aus gelben Augen unverwandt musterte. Allerdings brachen währenddessen tausend Gedanken zugleich über ihn herein, an die er sich sein ganzes Leben lang erinnern sollte.

      Das kann kein Löwe sein, der letzte wurde vor zehn Jahren in Grüntal gesichtet … Ein Sprung, und er reißt mich in Stücke … Götter, hat das Vieh Augen und Pranken, meine Freunde werden mir kein Wort glauben … Wo hab ich bloß meine Steinschleuder gelassen?

      »Zu Hause in Grünhag«, half ihm der Löwe.

      Léuns Gedanken versiegten. Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass gerade ein wildes Tier zu ihm gesprochen hatte.

      Der Traum ist gleich vorbei, versuchte er sich zu beruhigen. Ich muss nicht kämpfen. Ich muss nicht weglaufen.

      »Fast richtig. Lange genug bist du weggelaufen. Jetzt ist es Zeit, dich mir zu stellen. Kämpfen?« Der Löwe spreizte die Schnurrhaare und schnaubte vergnügt. »Das wäre zwecklos. So zwecklos, wie sich auf den Weg zum Horizont zu machen, mit einem Sieb Wasser zu schöpfen oder die Flamme von der Kerze loszuschneiden.«

      Die Stimme klang tief und sonor, zugleich hatte sie einen knurrig-belustigten Tonfall, eine Mischung, genau wie sie Léun von einem Raubtier erwartet hätte, das nichts und niemanden zu fürchten brauchte. Einerseits klang sie so weich und samtig, wie das Fell des Löwen aussah, andererseits aber auch so bedrohlich und tödlich, wie seine scharfen Krallen Wunden rissen. Seltsamerweise kam Léun die Tonlage dieser Stimme unendlich vertraut vor.

      Was jetzt?, dachte er.

      »Das weißt du doch«, erwiderte der Löwe freundlich. »Ich werde dich verschlingen, auf dass du mich dir einverleibst und endlich zusammengefügt wird, was so lange getrennt gewesen ist.«

      Wenn ich nur endlich aufwachen könnte!

      »Wovor hast du Angst?«, fragte der Löwe.

      Ungläubig starrte Léun ihn an.

      Vor dir, dachte er.

      »Wovor hast du Angst?«, wiederholte der Löwe mit dröhnend lauter Stimme.

      Vor deinen Krallen. Deinen Zähnen. Vor Schmerzen und davor, zu bluten. Vor dem Tod.

      Der Löwe erhob sich, spannte die Muskeln. Sein Schwanz peitschte die Luft. Er riss den Rachen auf.

      »Wovor hast du Angst?«, brüllte er zum dritten Mal.

      Vor dem Sterben, dachte Léun.

      »Du lügst«, sagte der Löwe. Und sprang fauchend auf ihn zu.

      Mächtige Pranken trafen Léun an den Schultern. Er wurde rücklings zu Boden geschleudert. Sein Hinterkopf schlug hart irgendwo auf, und für einen Moment sah er nichts mehr außer bunten, tanzenden Funken. Verzweifelt versuchte er sich herauszuwinden aus dem unbarmherzigen Griff der Raubtierpranken, doch er war gefangen. Dem jagenden Untier hilflos ausgeliefert.

      Und dieses riss ohne Gnade seine Beute.

      Léun stöhnte vor Schmerz, als der Löwe ihm die Krallen ins Fleisch grub. Er spürte, wie sein eigenes warmes Blut aus tiefen Wunden hervorschoss und an seinem Körper herunterlief. Er schrie, wie er nie zuvor geschrien hatte. Das Leben in seinem Körper bäumte sich gegen die Bedrohung auf … und für einen kurzen Augenblick kehrte die klare Sicht zurück.

      Der Löwe öffnete das Maul und entblößte blitzende, fingerlange Reißzähne. Dann senkte er den Kopf, um seinem Opfer die Kehle durchzubeißen.

      Es ist aus mit mir …

      Da geschah etwas Unerwartetes.

      Dunkelheit

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