Weltenlied. Manuel Charisius
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Читать онлайн книгу Weltenlied - Manuel Charisius страница 9
Héranon lehnte sich zurück, verschränkte die Arme auf der Brust und schloss die Augen halb.
»Glückwunsch«, knurrte er, wobei er so fest auf den Stiel seiner Pfeife biss, dass seine Kiefermuskeln hervortraten. »Du hast wirklich Glück!«
»Womit?«, fragte Léun verwirrt.
»Na, mit den Mädchen natürlich.«
Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, und klappte ihn verwundert wieder zu. Ciára sollte ihm bis zur Löwenquelle gefolgt sein? Das konnte er sich nicht vorstellen.
»Zu meiner Zeit war das alles noch ganz anders«, behauptete Héranon. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und hustete so lautstark, dass die ganze Hütte zu wackeln schien. »Früher hatten Grüntals Väter ein Auge auf ihre Töchter. Zwei Augen! Auch nur einmal mit unserer Auserwählten allein zu sein – unmöglich. Wenigstens das scheint nicht dein Problem zu sein, oder?«
»Doch, Waldhüter«, sagte Léun ärgerlich. »Aber darum geht es nicht.«
»Sondern?« Héranon musterte ihn scharf. »Wer blond ist wie du – und ein auch nur annähernd hübscher Bengel –, dem rennen die Mädels doch in Scharen hinterher! Ich weiß aus eigener Erfahrung, wovon ich rede. Fast immer waren meine Kleider weg, sobald ich wieder aus dem See stieg. Hinter den Büschen haben sich die frechen Gören prustend die Augen nach mir ausgeguckt.« Er lachte grimmig.
»Aber da waren keine Mädchen«, widersprach Léun.
»Dann vielleicht ein paar Jungen?« Héranon zuckte die Achseln. »Oder ein einzelner Junge. Der sich zufällig in dich verguckt hat anstatt in ein Mädel.«
»Ich war ganz allein«, beharrte Léun.
»Am Mittleren See ist man nie allein«, gab der Waldhüter zu bedenken.
Léun kniff die Lippen zusammen und schaute in seinen Weinbecher.
»Ach, ich verstehe. Du warst gar nicht am See.«
»Grantis Hunde haben mich bis nach Waldhag gejagt«, gab er zerknirscht zu. »Danach bin ich rauf zur Löwenquelle.«
Ein Donnerschlag ließ ihn zusammenzucken. Selbst Héranon zeigte für einen Moment Respekt vor dem draußen tobenden Sturm. Er hustete ungesund, legte seine Pfeife auf die bereitstehende tönerne Schale und lehnte sich, Atem holend, zurück.
»Wenn ich eins in meinen Jahren als Waldhüter gelernt habe«, sagte er in düsterem Tonfall, »dann, dass in den Wäldern dieser Welt andere Gesetze herrschen, als uns Menschen lieb ist. Zwischen Wipfeln und Baumstämmen leben Kreaturen, die älter sind, als du dir vorstellen kannst. Sie bestimmen, was in ihrem Reich geschieht. Sie dulden uns, keine Frage. Doch nicht alle von ihnen sind uns wohlgesinnt.«
Schluckend verschanzte sich Léun hinter seinem Becher. Der Alte war offenbar nicht ganz bei Trost!
»Die Löwenquelle zählt zu den geheimnisvollsten Orten im ganzen Grünwald. In ihrem Umkreis geschehen seltsame, unerklärliche Dinge. Selbst die Zeit vergeht dort anders. Die Quelle ist …« Héranon brach ab, als er Léuns unverhohlenes Grinsen sah. »Weißt du, woher sie ihren Namen hat?«
»Ja, Waldhüter, aber …«
»Eben nicht«, fiel ihm dieser ins Wort. Er griff nach seiner ausgegangenen Pfeife. »Du weißt es eben nicht. Es hat nicht nur mit diesem Felsen zu tun. Die Löwenquelle ist ein magischer Ort!«
»Aber es gehen doch ständig Leute hin«, rief Léun mit einem unguten Gefühl. »Noch nie ist jemand verzaubert von dort zurückgekommen.«
»Stimmt, Kerl.« Tatkräftig stopfte Héranon seine Pfeife neu. »Trotzdem hast du dort etwas erlebt, das dich an deinem Verstand zweifeln lässt, nicht? Weshalb du im edelsten Gewand, das der Gott der Männer dir schenkte, bei Nacht durch den Wald geirrt bist!«
Léun schwieg betreten.
»Erzähl schon.« Der Waldhüter goss ihm Honigwein nach.
Léun rang mit sich. Sollte er ihm wirklich auf die Nase binden, dass er einen leibhaftigen Löwen auf dem Felsen gesehen hatte? Der noch dazu wie ein Mensch mit ihm gesprochen hatte, bevor er ihn anfiel und ihm mit seinen Krallen die Haut zerfetzte, wovon jetzt aber dummerweise nichts mehr zu sehen war? Ganz zu schweigen davon, dass er im Rachen des Löwen sämtliche Sterne des Alls erblickt hatte?
Nein, da kam ihm die Baumwurzel als Ursache der ganzen Probleme doch wesentlich überzeugender vor.
Wann genau bin ich nochmal gestürzt und ohnmächtig geworden?
Wenn er sich recht erinnerte, war der Löwe schon vorher auf dem Felsen erschienen. Das Vieh hatte doch erst dafür gesorgt, dass er stürzte! Davon abgesehen hatte es bestimmt nicht seine Kleider gefressen.
Oder?
Er leerte seinen Becher so schwungvoll, dass der Honigwein überschwappte und ihm in den Hemdkragen lief.
»Ist anscheinend eine komplizierte Geschichte«, stellte Héranon grinsend fest. Er hatte seine Pfeife wieder in Gang gebracht und blies einen vollkommen runden Rauchring zur Decke.
»Vergiss es«, knurrte Léun.
Der Waldhüter musterte ihn wieder mit halbgeschlossenen Augen.
»Wie alt bist du eigentlich, Kerl?«
»Sechzehn«, log er ohne zu zögern. So alt war Stán. Léun fand, er sah mindestens genauso erwachsen aus. Seine Stimme klang sogar ein bisschen tiefer als die von Stán. Das hatte ihm auch schon Arrec bestätigt.
»Das Alter stimmt schon mal nicht«, murmelte Héranon, ohne ihn anzusehen.
Léun spürte, wie er rot wurde. Wie hatte der Waldhüter das nur merken können?
»Geburtsmond?«, lautete abrupt die nächste Frage.
»Tríl«, antwortete er wahrheitsgemäß.
»Tatsächlich?«, grunzte Héranon, den Pfeifenstiel zwischen die Zähne geklemmt. »Ich wüsste ja zu gern …« Er unterbrach sich und paffte eine Weile grübelnd und schweigend.
»Was?«
Der Waldhüter machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Weißt du schon, was du mal werden willst?«
Léun schüttelte den Kopf.
»Irgendwas mit Holz würde mir gefallen. Zimmermann zum Beispiel.« Er überlegte. Arrec würde wohl oder übel Reishändler werden wie sein Vater, Stán schwärmte von der Fischerei.
»Ich könnte einen Lehrling gebrauchen«, meinte Héranon. »Wenn du dir zutraust, Holz zu schlagen und die wilde Sau zu erlegen, neue Waldpfade anzulegen und alte freizuhalten, Nächte durchzuwachen, viel allein zu sein und noch mehr dummes Gerede über dich ergehen zu lassen – dann ist der Posten des Waldhüters vielleicht etwas für dich. Du bist dein eigener Herr, musst aber umso härter schuften, willst du von deiner Arbeit leben.«
Ratlos