Weltenlied. Manuel Charisius
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»Fass, ihr Burschen! Aber nur spielen, ja?«
Wie rastlose Geister der Unterwelt fuhren die Hunde durch das Gatter in die Freiheit und jagten mit ohrenbetäubendem Gekläff hinter ihrer Beute her.
Léun rannte mit seinen Freunden oft genug um die Wette über die Wiesen Grüntals. Er war ein schneller Läufer, aber eben nur ein Mensch. Außerdem war der Boden auf tückische Weise uneben. Die Biester hinter ihm ließen sich weder durch Senken noch durch herumliegendes Geäst ins Straucheln bringen; er dagegen stolperte alle paar Schritte. Die Erinnerung an seinen ständigen Alptraum lähmte ihn zusätzlich.
Es gab kein Entkommen.
Mit auf und ab nickenden Köpfen und heraushängenden Zungen holten die Hunde ihn scheinbar mühelos ein. Sie sprangen an ihm hoch und versuchten, nach seinen Waden und Handgelenken zu schnappen. Er wich aus, rannte weiter, wich wieder aus.
Nur nicht stehenbleiben!
Kläffend und schwanzwedelnd hetzten die beiden Köter ihn fast die ganzen zwei Meilen bis nach Waldhag. Als die Hütten des Dorfes vor ihm auftauchten, ließen sie endlich von Léun ab. Winselnd hechteten sie in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren.
Erschöpft beugte er sich vornüber, stützte die Hände auf die Knie und atmete so lange durch, bis das Brennen in seiner Kehle endlich nachließ. Dann begutachtete er seine Unterarme und Waden. Überall hatten ihm die schnappenden Fänge der Hunde Kratzer und Abschürfungen beigebracht.
»Mistviecher«, knurrte er wütend. »Das habt ihr zum ersten und zum letzten Mal mit mir gemacht.«
Die Verletzungen waren nicht schlimm, er spürte kaum den Schmerz. Umso heftiger brannte das Gefühl der Demütigung in ihm. Er räusperte sich lautstark und spuckte angewidert aus. Könnte er sich doch nur den Geifer der Hunde von der geschundenen Haut waschen!
Zum Mittleren See zurückzugehen kam nicht in Frage. Womöglich würde die alte Granti ihre schwarzen Biester noch einmal auf ihn loslassen. Außerdem hatte er das westlichste Dorf fast erreicht – und damit den Grünwald, der die Grenze des Tals bildete.
Von Waldhag aus führten zwei Pfade hinauf in die Berge. Der nördliche endete bei der Hütte von Héranon, dem Waldhüter. Der südliche querte nach einem steilen Aufstieg einen Rundweg, der um das ganze Tal herumführte und an einigen Stellen atemberaubende Ausblicke bot. Wenn man nicht abbog, sondern dem Pfad weiter nach Westen in die Höhe folgte, erreichte man eine Quelle. Die Bewohner Grüntals nannten sie die Löwenquelle.
Der Wasserlauf, der an dieser abgelegenen Stelle an die Oberfläche trat, hatte im Laufe der Jahrzehnte den weichen Waldboden ausgespült. Ein kleiner Teich war entstanden. An Sommerabenden kamen manchmal frisch verliebte Pärchen hierher. Oder einsame, unglückliche Liebende. Tagsüber ging niemand zur Löwenquelle hinauf, obwohl das Wasser um einiges klarer und frischer war als das aus dem Mittleren See.
Obwohl es längst Mittag war und sein Magen sich mit lautem Knurren bemerkbar machte, beschloss Léun, sich zur Quelle zurückzuziehen. Falls ihm der Hunger keine Ruhe ließ, konnte er ja später immer noch in Waldhag jemanden um einen Becher Milch und eine Waffel bitten.
Er umging Waldhag in südlicher Richtung, um nicht entfernten Bekannten neugierige Fragen beantworten zu müssen. Gut zwei Steinwürfe von der letzten Hütte entfernt schlug er sich in die Büsche, die den Grünwald säumten. Im Schutze des Laubs bewegte er sich auf das Dorf zu. Er hörte Hühner gackern und das gedämpfte Lachen einer Familie, die sich vermutlich zum Essen zusammenfand. Der köstliche Duft von Gebratenem stieg ihm in die Nase. Sein Magen krampfte sich zusammen. Endlich stieß er auf die Mündung des Waldpfads. Er schnaubte entschlossen, kehrte Grüntal den Rücken und machte sich an den Aufstieg.
Als Léun auf den Rundweg stieß, blieb er stehen um zu verschnaufen. Von dem Gewaltmarsch, den er hingelegt hatte, rann ihm der Schweiß von der Stirn. Er wandte sich um und schaute zurück. Weit unter ihm, von den Baumwipfeln teilweise verdeckt, lag Grüntal. Von hier oben aus gesehen hatte das Wasser des Mittleren Sees eine grünbraune, brackige Farbe. Die Luft war diesig geworden. Der Himmel war nicht mehr blau wie am Morgen, sondern von milchigem Weiß, das sich an manchen Stellen zu einem regenverheißenden Grau verdichtet hatte. Noch dazu türmten sich am östlichen Horizont Gewitterwolken auf, die die südlich stehende Sonne fast erreicht hatten. Unwetter zogen laut Léuns Großvater meistens von Osten heran.
Hoffentlich schaffe ich es vor dem Sturm noch nach Hause, dachte er säuerlich.
Der obere Teil des Pfades zur Quelle wurde selten benutzt. Zweige von Buchen und Kastanien hingen bis auf den Boden, und an einer Stelle versperrte eine umgestürzte Tanne den Weg. Léun musste den Baumriesen umgehen und holte sich weitere Schrammen, als er sich mühsam zwischen Ästen und Zweigen hindurchschob.
Kurz danach wurde das Gelände steiler und noch unwegsamer. Beim letzten Regen musste sich der Pfad in einen reißenden Bach verwandelt haben; der Erdboden war zu großen Teilen mitgerissen worden, so dass die darunterliegenden Felsen freilagen. Die kleinsten davon waren faustgroß und kullerten in die Tiefe, wenn Léun darauf trat. Andere Brocken saßen zwar noch fest im Boden, hatten dafür aber tückisch scharfe Kanten. Er musste doppelt vorsichtig sein. An vielen Stellen blieb ihm nichts anderes übrig als zu klettern, weil der Pfad plötzlich von einem hüfthohen Felsabsatz durchbrochen war. Oder er wand sich in einer engen Kehre um einen riesigen Findling herum, den fünf Männer mit ausgestreckten Armen gemeinsam nicht hätten umfassen können.
Léun begegnete niemandem. Froh, für eine Weile dem emsigen Treiben im Tal entflohen zu sein, gab er sich mit allen Sinnen der Stille des Waldes hin. Sie klang anders als die Stille einer Nacht, die sich auch über Grüntal herabsenkte; hier oben sangen kaum Vögel, und keine einzige Grille oder Zikade war zu hören. Nicht einmal die Bäume rauschten. Mittlerweile wehte absolut kein Wind mehr. Nur ab und zu ratschte ein Häher, oder ein paar Waldtauben flogen mit klatschenden Flügeln auf.
Einmal sah Léun ein Reh, das keine zwanzig Schritt vom Pfad entfernt dastand wie ein Bildnis aus Stein. Er blieb ebenfalls stehen, und das Tier und er starrten einander eine Weile reglos an. Wie auf Kommando verfiel es in gemächlichen Galopp, um nahezu lautlos in nördlicher Richtung den Hang hinab zu verschwinden.
Die Wegstrecke zur Löwenquelle war länger, als Léun sie in Erinnerung hatte. Aber damals waren Stán und Arrec dabei gewesen. Sie hatten die ganze Zeit über herumgealbert. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Umso erleichterter war er, als das Gelände nach einem schier endlosen, beschwerlichen Aufstieg flacher wurde.
Léun kannte die Stelle – ein erster bewaldeter Hügelkamm, mit dem die Rockenberge begannen. Jetzt musste er noch ein letztes Stück nach Norden marschieren, dann war er am Ziel.
Das Wasser der Löwenquelle entsprang einem felsigen Buckel, der aus dem Hügelkamm herausragte. Er hatte unverkennbare Ähnlichkeit mit dem erhobenen Kopf eines Löwen. An der Seite lief das Wasser herunter und bildete am Boden den kleinen Teich. Dahinter zog sich ein schmaler Bachlauf durch den Wald bis nach Grüntal hinunter.
Beim letzten Besuch hatte sich Stán einen Spaß daraus gemacht, den Felsen zu erklettern, um von dort aus ins Wasser zu springen. Er hatte es doch nicht gewagt. Sie hatten ihn als Feigling verspottet, obwohl Léun sich insgeheim vorstellte, dass die Höhe von oben bedrohlicher wirkte als von hier unten. Außerdem hätte auch er sich nicht unbedingt den Hals brechen wollen.
Der kleine Wasserfall schien ihm diesmal höchstens halb so mächtig wie damals zu sein. Das