Spuren von Gestern. Werner Heinemann

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Spuren von Gestern - Werner Heinemann

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wiederholte die einladende Handbewegung und sie dirigierte mich überraschenderweise nicht die leicht geschwungene Treppe hinauf, sondern genau gegenüber auf einen Büroraum zu. Wie selbstverständlich hielt sie mir die Tür auf. Das irritierte mich. Sie bemerkte das und kommentierte unter charmanter Begleitung ihrer funkelnden großen Augen: „Sie dürfen sich ruhig ein wenig von mir hoffieren lassen.“

      Natürlich habe ich auch mal etwas gesagt oder ihr geantwortet, aber ich kann mich beim besten Willen an keinen einzigen vollständigen Satz erinnern, den ich an Frau Strör richtete. Im Nachhinein eine schlaue Rede erfinden, möchte ich der Wahrheit zu liebe aber auch nicht. Wir müssen es daher bei Bedarf der Fantasie des geneigten Lesers überlassen, meine Konversation mit ihr vor seinem geistigen Auge zu vervollständigen.

      In dem kleinen Büroraum war es etwas schwül. Mir fiel auf, dass sie keinerlei Schmuck trug, weder Halskette noch Fingerring. Frau Strör wies mir den Platz an dem geräumigen Schreibtisch ihr gegenüber und nachdem sie sich selbst gesetzt hatte, schob sie beide Ärmel ihres Blazers herunter. Dann machte sie eine kurze Bewegung mit der Mouse und blickte auf den Bildschirm, wobei sie ihre Zungenspitze ein kleines bisschen zwischen ihre sinnlich reizenden Lippen schob. Und jetzt fiel auch der Groschen, ich erinnerte mich, wer sie war. Vor mir saß das Hildchen!

      Das Hildchen, Mechthild Gerdes, hatte eben diese Angewohnheit, zwischen den geschlossenen Lippen ihre kleine Zungenspitze vorwitzig hervorluken zu lassen, wenn sie überlegte oder eine kleine Tätigkeit vollführte. Sei das nun bei der Lösung einer Rechenaufgabe oder dem Befestigen ihre Rollschuhe an ihren zierlichen Füßen, Hildchens kleine Zunge nahm zwischen ihren Lippen stets Anteil. Die unmerklich vereinzelten Sommersprossen auf dem etwas zu fleischig kindlichen Nasenrücken waren auch noch vorhanden.

      Spontan liefen Bilder unserer gemeinsamen Kindheit vor meinen Augen ab. Wir waren zehn Jahre alt. Schuster und Wollschläger, die beiden unangefochtenen Anführer unseres Jahrgangs, saßen auf der Sandsteinmauer am Johannisplatz und ließen ihre Beine baumeln. Zwischen ihnen stand ein Eimer Kirschen, aus dem sie sich bedienten, um sich im Kirschkernweitspucken zu messen. Polter und Jeromir markierten ihre jeweiligen Bestleistungen im Kopf-an-Kopf-Rennen und waren auch des Lobes voll, wenn ein Versuch unter der persönlichen Bestweite blieb.

      Vor Luigis Eisdiele lehnte ich am Waschbeton des Blumenkübels, beobachtete den Wettstreit und verachtete Polter und Jeromir noch ein wenig mehr. Dann bemerkte ich, wie das Hildchen auf dem Fahrrad aus der Louisenstraße auf den Johannisplatz einbog. Es war völlig unerklärlich, wie es zu dem Unfall kommen konnte. Aus heiterem Himmel stürzte Hildchen mit ihrem Fahrrad.

      Schuster schlug sich auf den Oberschenkel und lachte. Aber Wollschläger stieß sich zum Sprunge mit beiden Armen von der Mauer ab und schlenderte zum verunglückten Hildchen. Sie hatte sich bereits wieder erhoben, achtete ihr leicht blutendes Knie nicht und wischte an ihrem Lackschühchen, dass wohl einen Kratzer abbekommen haben musste. Wollschläger stellte ihr Fahrrad wieder auf die Räder. Und Hildchen trat zu ihm, reckte sich auf ihren Zehnspitzen in die Höhe und gab ihm einen Kuss auf den Mund.

      Welch eine Blamage für Wollschläger, in aller Öffentlichkeit von einem Mädchen derart bloßgestellt worden zu sein. An ihren Reaktionen erkannte ich, dass Schuster, Polter und Jeromir diesbezüglich ganz meiner Meinung waren. Ob sie auch den stechenden Schmerz, der meinen Körper gleichzeitig durchzuckt hatte, gespürt hatten, bleibt ihr Geheimnis.

      Gerne wäre ich vertrauter mit Hildchen gewesen, aber sie beachtete mich nicht.

      Frau Strör hatte ein Papierblatt auf dem Tisch gedreht und wies erklärend mit ihrem Kugelschreiber auf die Zahlenkolonne einer Tabellenspalte. Ich vermutete, dass sie mir die monatlich fälligen Zins- und Tilgungszahlungen bei gleichem Zinssatz und veränderter Laufzeit präsentierte, wenn ich denn eins ihrer Angebote annehmen würde. Währenddessen betrachtete ich ihre braunen, feingliedrigen Hände. Die Fingernägel waren blassrosa lackiert und glänzten. Die Verlockung war groß, ganz leicht über ihren Handrücken zu streicheln.

      „Einmalige Sondertilgung ist in jedem Fall möglich. Selbstverständlich werden wir uns dann bei Bedarf auch über veränderte Annuität und Restlaufzeit unterhalten“, versprach sie mit liebenswürdiger Verbindlichkeit.

      „Ja, sehr schön“, sagte ich und blickte auf ihre von ihrem Busen gespannte Bluse, ähnlich wie damals, als ich sie das letzte Mal sah.

      Wir waren inzwischen dreizehn Jahre alt. In einem kleinen Waldstück hinter dem Fußballstadion befand sich der ideale Platz für unsere Cowboy- und Indianerspiele, in denen ich es allerdings nur bis zum räuberischen Comanchen, bestenfalls zum gutmütigen Schwarzfußindianer gebracht hatte.

      Eine beliebte, aber auch gefährliche Stelle im Wäldchen war der alte Steinbruch, dort wo früher der rote Sandstein abgebaut worden war. Eine dreizehn Meter hohe Steilwand senkte sich lotrecht in die Tiefe. Da oben konnte man sich an einer dicken herabhängenden Baumwurzel geklammert um einen Felsvorsprung herum schwingen, um unter Umständen einen Geländevorteil gegen die schießwütigen Cowboys zu erreichen. Diesmal hielt die Baumwurzel nicht und Wollschläger stürzte hinab.

      Ich verfügte zwar über keine nennenswerte Ausdauer, aber auf der Kurzdistanz war ich der Schnellste von uns. So rannte ich los und stoppte an der Straße sofort ein Auto. Schnell waren Rettungskräfte vor Ort. Aber es war umsonst, Wollschläger war längst tot, er hatte sich das Genick gebrochen.

      Und dann sah ich das Hildchen im Profil am offenen Grab stehen. Sie stand den Kopf weit in den Nacken gestreckt, den tränenschweren Blick zum Himmel gerichtet, als sei von dort Trost und Hilfe in ihrem Leid zu erwarten. Ich sah auf ihre kleine Brust, die sie durch ihre Körperhaltung ein wenig hervorgedrückt hatte.

      Schon am folgenden Tag war ich wegen des neuen Arbeitsplatzes meines Vaters mit meinen Eltern und Geschwister nach Bremen gezogen. In meine Heimatstadt bin ich erst seit wenigen Jahren zurückgekehrt, um in die kleine Eigentumswohnung einzuziehen, die ausgerechnet mir mein Opa zum Ärger aller Erbberechtigten vererbt hatte.

      Frau Strör drehte wieder ein Papier auf dem Schreibtisch und wies mit dem Kugelschreiber über der gedruckten Linie direkt hinter das Kreuz, das sie zu meiner Orientierung gesetzt hatte. Ich vollzog meine Unterschrift am vorgesehen Ort. Dann drehte sie das Papier wieder um 180 Grad. Sie leistete auch noch ihre Unterschrift, wobei sie wieder die Zungenspitze zwischen die geschlossenen Lippen schob.

      Sie sah mich offen und freundlich an, aber ihre folgende Blickwendung zur Bürotür sagte unmissverständlich, dass das geschäftliche Prozedere beendet sei. Ich dankte ihr und erhob mich rasch, aber sie war schneller und hielt mir wieder die Tür auf. Bevor sie mir entwischen konnte, fragte ich hastig: „Eine Frage noch. Kann es sein, dass Sie mit Mädchennamen Gerdes, Mechthild Gerdes, hießen?“

      Das war ein Volltreffer. Sie war überrascht. „Oh“, sagte sie, „ja, aber … ich weiß nicht … im Moment kann ich mich nicht …“

      Ich unterbrach sie: „Das ist auch nicht so wichtig. Vielen Dank nochmals. Auf Wiedersehen, Frau Strör.“

      Während ich durch die Eingangshalle dem Windfang zueilte, spürte ich ihre Blicke in meinem Rücken. Der schnieke junge Mann stand hochgewachsen und kerzengerade hinter dem kurzen, flachen Tresen und grüßte zum Abschied.

      Der Hauptmann der NVA

      Man hätte es voraussehen müssen. Der Himmel über der Stadt hatte sich im Westen schon seit dem Mittag verdunkelt. Schon seit einigen Stunden hingen die schwarzen Gewitterwolken schwer über den Häuserdächern. Vereinzelt hatte es auch schon geblitzt, aber der Donner folgte erst verhalten grummelnd zeitversetzt aus der Ferne. Jetzt aber donnert es krachend

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