Schattenchance. Maya Shepherd
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„Ich wusste nicht, ob ihr zu Hause seid“, antwortete ihre Mutter. „Außerdem war alles ganz spontan.“ Sie schaute in meine Richtung und löste sich von ihrer Tochter. Daraufhin streckte sie mir mit freundlichem Lächeln die Hand entgegen. „Hallo. Ich bin Roisin, die Mutter von Dairine.“
Ich erhob mich vom Bett und ergriff die ausgestreckte Hand. „Ich bin Winter.“
„Oh, was für ein schöner, aber ungewöhnlicher Name“, lächelte sie und hielt meine Hand einen Moment länger als nötig fest. Es war jedoch nicht unangenehm, denn Dairine musste die herzliche und offene Ausstrahlung von ihrer Mutter geerbt haben. Roisins Händedruck war fest und warm. Ich bildete mir ein, dass sie nach Sand und Sonne roch. „Möchtest du mit uns essen? Wir könnten etwas vom Italiener bestellen.“
Ehe ich antworten konnte, kam mir Dairine zuvor. „Winter muss jetzt nach Hause.“
Es versetzte mir einen Stich ins Herz. Zwar konnte ich verstehen, dass sie ihre Mutter in der spärlichen Zeit, die sie in Irland sein würde, für sich haben wollte, aber ich schob es mehr auf mein Geständnis, denn zuvor hatte sie meine Gegenwart nie gestört.
„Ja, ich hab meine Hausaufgaben noch nicht gemacht“, stimmte ich ihr zu. „Aber trotzdem vielen Dank für das freundliche Angebot!“
Roisin lächelte und zwinkerte mir zu: „Dann holen wir das wann anders mal nach.“
Ich sah ein letztes Mal zu Dairine, um an ihren Augen ablesen zu können, ob sie meine Geschichte glaubte, doch sie ignorierte meinen Blick, sodass ich mich geknickt und unwissend auf den Heimweg machte.
Dairine fehlte am Montag in der Schule. Es war das erste Mal, seitdem sie aus Colorado nach Irland gezogen war. Das war mittlerweile schon vier Jahre her. Ich glaubte nicht, dass sie krank war, sondern schob es darauf, dass ihre Mutter wieder da war und sie Zeit mit ihr verbringen wollte. Aber insgeheim fürchtete ich, dass es mit mir und meinem Geständnis zu tun hatte. Obwohl ich wusste, dass Dairine keine Person war, die unangenehmen Gesprächen aus dem Weg ging. Sie war direkt und sagte, was sie dachte, anstatt sich zu verstecken und in Ausreden zu üben.
Nach der ersten Unterrichtsstunde schrieb ich ihr eine SMS und fragte sie, was sie hätte und ob sie länger wegbleiben würde. Danach holte ich mir einen Kaffee und setzte mich alleine in der Cafeteria an einen Tisch. Lucas und die anderen Schüler des Abschlussjahrgangs mussten diese Woche nicht mehr in die Schule, damit sie Zeit hatten, sich zu Hause auf die Prüfungen vorzubereiten. Mona und Aidan gingen in dieser Realität nicht auf unsere Schule und so war ich ohne Dairine ganz allein. Eigentlich hatte ich mich schon längst bei Mona melden wollen, aber die Fomori waren dazwischengekommen und außerdem musste ich immer wieder darüber nachdachten, was Evan zu mir gesagt hatte. Was, wenn Mona ohne uns besser dran war? Sie hatte bei unserem zufälligen Aufeinandertreffen wirklich einen guten Eindruck auf mich gemacht. Zudem lag mir Smalltalk nicht besonders und ich wusste nicht, worüber ich mit ihr reden konnte, ohne zu viel von mir preiszugeben. Wenn ich ihr die Wahrheit erzählte, würde sie mich für verrückt halten. Dairine war meine beste Freundin und deshalb hoffte ich, dass sie mir irgendwann doch glauben würde. Aber für Mona war ich eine völlig Fremde.
Wie es Aidan wohl ging? Ob er noch immer in Velvet Hill war? Ich nahm mir vor, das bei Gelegenheit zu überprüfen. Auch wenn er in der letzten Zeit vor seinem Tod mehr Monas Freund als irgendetwas anderes gewesen war, so verband uns doch der gemeinsame Aufenthalt in der Psychiatrie. Ohne ihn hätte ich die Zeit nicht durchgestanden. Mittlerweile war ich mir sogar sicher, dass ich nie wirklich in ihn verliebt gewesen war. Es war mehr der Wunsch nach Nähe gewesen. Lucas hatte mich für Eliza verlassen, Liam war durch meine Hand gestorben … Ich hatte mich so sehr nach jemandem gesehnt, der mich liebte, dass ich Zuneigung mit Liebe verwechselt hatte. Für Aidan musste es ähnlich gewesen sein. Ich hatte seinen tristen Klinikalltag aufgewirbelt und war die Erste gewesen, die ihm Hoffnung auf ein normales Leben gegeben hatte.
Ein Räuspern ließ mich erschrocken zusammenfahren. Meine Gedanken hatten mich völlig eingenommen und ich hatte nicht damit gerechnet, von jemandem angesprochen zu werden. Ungläubig blickte ich in stahlgraue Augen empor. Liams Hand lag auf dem Stuhl neben mir. Ich spürte, wie mir eine Hitzewelle durch den gesamten Körper jagte.
Er lachte auf, was mir bewusst machte, dass ich sicher ein ziemlich dummes Gesicht machte. „Darf ich dich kurz stören?“
„Ja, klar“, antwortete ich viel zu begeistert und fragte mich gleichzeitig, wie es dazu kam, dass er meine Nähe suchte. Bisher hatte ich nicht den Eindruck gehabt, dass irgendeiner meiner Annährungsversuche von Erfolg geprägt gewesen wäre. Aber bei ihm konnte man sich nie sicher sein.
Er zog den Stuhl zurück und ließ sich neben mir nieder. Unauffällig ließ er den Blick durch die Cafeteria wandern, die sich langsam leerte. Es würde bald zur nächsten Stunde klingeln. Er rutschte ein Stück zu nah an mich heran, als es für einen Lehrer und seine Schülerin üblich gewesen wäre. Sein Knie berührte meines und jagte einen Stromstoß durch meinen Körper. Als er sich zu mir vorbeugte, hatten sich meine Nackenhärchen bereits aufgestellt. „Du hast am Samstag meine Freundin Faye kennengelernt, oder?“
Eine Mischung aus Panik und Enttäuschung machte sich in mir breit. Er wollte mit mir ausgerechnet über Faye sprechen? Ich hatte ihr viel zu viel verraten. Ich beschloss, dass es besser war, nichts zu sagen, bevor ich nicht mehr wusste, und nickte deshalb lediglich.
Erneut sah er sich um, als fürchte er, dass jemand unser Gespräch belauschen könnte. „Du hast ihr Angst gemacht.“
„Ich ihr?“, stieß ich ungläubig hervor. Warnend sah er mich an, da ich etwas zu laut geworden war. Sofort mäßigte ich meine Stimme. „Sie hat mich bedroht und nicht anders herum“, raunte ich in dem Versuch, mich zu verteidigen.
Er runzelte die Stirn, als hätte er keine Ahnung, wovon ich sprach. „Woher weißt du, dass sie bei den Fomori war?“
„Sollte die Frage nicht eher sein, woher ich überhaupt von der Existenz der Fomori weiß?“
Er musterte mich und schien mich zum ersten Mal überhaupt wirklich wahrzunehmen. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, dass ich mich vor Faye beinahe geoutet hatte. Das weckte zumindest sein Interesse an mir. „Du bist keine Schattenwandlerin“, stellte er verständnislos fest.
„Ich nicht, aber meine Schwester“, klärte ich ihn auf. Über seine Mundwinkel zog sich ein triumphierendes Grinsen. „Wusste ich es doch“, murmelte er, was mir einen Stich versetzte. Die Erinnerung daran wie er kaum die Augen von Eliza hatte lassen können, war allgegenwärtig, ob es mir lieb war oder nicht.
„Unsere Tante ist die rechte Hand von Charles Crawford“, fuhr ich fort, um seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken. Es funktionierte, denn sein Grinsen verschwand. Stattdessen starrte er mich entsetzt an. Erneut ließ er seinen Blick misstrauisch über mein Gesicht wandern. Er schien abzuwägen, ob eine Gefahr von mir ausging. „Hat Faye etwas zu befürchten?“
„Also gehört sie wirklich nicht mehr zu ihnen?“
„Nein“, versicherte er mir und sah mir dabei eindringlich in die Augen. „Ich weiß nicht, wie viel du weißt, aber …“
„Ich weiß alles“, unterbrach ich ihn etwas zu vorschnell. Ich wusste mehr als jeder andere, mehr,