Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1. Carl Wilckens
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»Sei vorsichtig«, murmelte ich und legte die Rechte auf den Griff meines Revolvers.
»Vorsichtig?«, wiederholte Waterstone und lachte nervös. »Was kann uns hier schon erwarten?«
Wieder blitzte es über uns.
Ich überlegte, die Kabine anzuhalten, entschied mich aber dagegen. So würde ich dem Feind nur verraten, dass wir etwas ahnten. Vielleicht konnten wir zu unserem Vorteil nutzen, dass er glaubte, uns überraschen zu können.
»Hör auf, mich verrückt zu machen, Albert«, sagte der Professor, als ich mich beim nächsten Blitz mit wachsamer Miene hinter die hüfthohen Kabinenwände duckte. Inzwischen waren wir der Quelle so nahe, dass wir einen Regen gelber Funken sehen konnten, der jeden Blitz begleitete. Ich legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete dem Professor, ebenfalls in die Hocke zu gehen, indem ich am Ärmelsaum seines Sakkos zog. Waterstone blickte mit hochgezogenen Brauen zu mir hinab. Seine Miene änderte sich schlagartig, als wir ein Röcheln wie aus der Kehle eines Untoten hörten. Er kauerte sich in eine Ecke der Kabine und starrte mich mit aufgerissenen Augen an. Noch einmal legte ich einen Finger auf die Lippen. Auf Höhe des Blitzes angelangt wanderte meine Hand zum Steuerkreuz, um die Kabine anzuhalten. Ich ignorierte Waterstones stummes Kopfschütteln und wir kamen mit einem Ruck zum Stehen.
Wieder blitzte es. Wir waren der Quelle nun so nahe, dass einer der Funken in unsere Kabine trudelte. Die Hand auf dem Griff der Pistole wagte ich, einen Blick über den Kabinenrand zu werfen. Das Licht der synaígischen Lampen fiel auf einen Mann, der von einem der Folklore-Vernichter aufgespießt worden war. Die dünne Messingnadel hatte sich in seine nackte Brust gebohrt und ragte aus seinem Rücken. Er musste das selbstmörderische Unterfangen auf sich genommen haben, an dem Bücherregal hinaufzuklettern. Anders war nicht zu erklären, wie er hierhergelangt war. Seine Haut war weiß wie die eines Perlsüchtigen und spannte sich über einen muskulösen Oberkörper. Auf seinem Oberarm befand sich ein Brandzeichen in Form einer Waage. Er lebte noch. Mit beiden Händen umklammerte er die Nadel, die in seinem Leib steckte. Gerade, als er die Armmuskeln anspannte, um sich davon herunterzuschieben, jagte der Folklore-Vernichter einen weiteren synaígischen Schlag durch seinen Körper. Es knallte, gelbe Lichtbögen umspielten den Unbekannten und Funken regneten in die Tiefe. Sein Leib erschlaffte und einige Sekunden lang hing er wie ein Hühnchen am Spieß da und atmete röchelnd.
Ich zog meine Pistole und richtete sie auf den Mann. »Hey!«, rief ich. Der Unbekannte wandte den Kopf und erst jetzt bemerkte ich, dass dort, wo seine Augen hätten sein sollen, nur leere schwarze Höhlen waren. Der Mann bleckte die Zähne, die lang und nadelspitz waren, und streckte seine Hände mit Fingern, die in klauenähnlichen Nägeln endeten, nach mir aus. Meine Stimme schien ihn wild zu machen. Er strampelte in der Falle, warf den Kopf hin und her und schlug durch die Luft, bis ein weiterer Stromstoß ihn kurzfristig aller Kraft beraubte.
»Wer … was ist das?«, fragte Waterstone heiser, der sich gerade so weit hinter seiner Deckung hervorwagte, dass er das Monster sehen konnte.
»Ein Experiment deines geschätzten Kollegen Schwarzberg«, entgegnete ich grimmig. Vor dem Massenausbruch aus Sankt Laplace waren sie im Keller der Nervenheilanstalt eingesperrt gewesen. Angeblich hatte Schwarzberg dort seine misslungenen Experimente eingeschlossen, doch fragte ich mich in diesem Moment, ob es sich nicht in Wahrheit um das genaue Gegenteil handelte.
»Schwarzberg hat …«, setzte Waterstone an, doch ein Schuss aus meinem Revolver verwandelte den Rest des Satzes in einen Schrei. Die Kugel riss Schwarzbergs Experiment den halben Kopf weg. Blutige Fetzen sprenkelten die Buchrücken und verloren sich in der Tiefe. Die Bewegungen des Monsters erschlafften. Waterstone wandte den Blick ab, als sich die Nadel des Folklore-Vernichters wieder ins Loch der Schiene zurückzog und der Tote lautlos hinabstürzte. Ich sah ihm nach, bis er von der Dunkelheit verschluckt wurde. Er löste sich nicht in schwarzen Rauch auf, wie Nikandros es nach seinem Tod getan hatte. Also war er kein Enerphag gewesen? Wieso hatte der Folklore-Vernichter dann auf ihn reagiert?
»Du … du hast ihn getötet«, stammelte Waterstone. Er sah aus, als würde er gleich ohnmächtig werden.
»Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte ihm die Chance gegeben, sich aus der Falle zu befreien?«, entgegnete ich. Ich war dem Gedanken nicht abgeneigt gewesen, mich ein paar Stunden lang der Aura des Wesens zu widmen. Doch eine meiner grundlegendsten Überlebensregeln lautete, nicht zu zögern. Töte deine Feinde, ehe sie dich töten. »Du kannst beruhigt sein: Ich bezweifle, dass der unglückliche Mann, der er einmal war, bevor er Schwarzberg in die Hände fiel, noch existierte. Ich vermute, dass ein Enerphag in ihm steckte. Nur das erklärt, warum der Folklore-Vernichter ihn aufgespießt hat.«
»Ein Enerphag? In ihm? Du meinst, sie können … von … von Menschen Besitz ergreifen?« Es kostete ihn offenbar große Mühe, den Satz zu Ende zu bringen.
»Für gewöhnlich nicht.« Nicht, wenn ich Norins Memoiren trauen durfte. »Schwarzberg muss es irgendwie gelungen sein, den natürlichen Schutzmechanismus des Verstandes dieser Männer und Frauen zu umgehen.«
»Es gibt noch mehr davon?« Der Professor sah aus, als würde ihm schlecht.
Ich erwiderte seinen Blick mit ernster Miene und nickte. »Viel mehr.«
»Woher weißt du das?«
»Ich war dort. Ich habe sie gesehen.«
»Du warst dort? Wann?« Waterstones Augen weiteten sich, als ihm offenbar ein Licht aufging. »Du hast doch nichts mit dem Massenausbruch zu tun, oder?«
»Ich habe damit zu tun …«, sagte ich, und Waterstone stöhnte auf. »… aber nicht ich habe die Irren befreit. Das waren ein Kerl namens Uther und Schwarzberg selbst.«
»Schwarzberg …«, murmelte Waterstone. »Das kann nicht sein. Er ist ein ehrenwertes Mitglied des Senats der Treedsgow University.«
Ich schnaubte freudlos. »Ich verstehe nicht viel von Ehre, aber Schwarzberg ist ohne Zweifel die Personifikation des Gegenteils.«
Der Professor schüttelte den Kopf. »Du musst dich irren. Was hattest du überhaupt in der Anstalt zu suchen? Woher weiß ich, dass du die Wahrheit sagst?« Während er im Folgenden jeden Gedanken verbalisierte, der ihm durch den Kopf ging, fiel mein Blick auf ein Buch hinter ihm, dessen Rücken aus der Reihe der anderen hervorstach. Ich ging an ihm vorbei und zog es aus dem Regal. Ein zusammengefaltetes Stück Papier steckte wie ein Lesezeichen darin. Es war beschriftet: nicht mit Runen, auch nicht mit guntrischen Buchstaben, nein, nicht einmal die Handschrift war mir fremd. Als ich das Papier herauszog und auseinanderfaltete, erkannte ich, dass ich nicht nur die nächste Seite von Williams Tagebuch gefunden hatte, sondern die nächsten beiden. Ich ballte die Hand zur Faust, wobei ich die Seiten zerknüllte, und blickte mit wütender Miene dorthin, wo vorhin noch eines von Schwarzbergs Experimenten gehangen hatte. Hatte dieses Monster die Seiten hier platziert? War Schwarzberg derjenige, der sie mir zukommen ließ? Aliona hatte angedeutet, dass mich jemand für seine Zwecke missbrauchte. Es wäre mir wohl egal gewesen, solange ich am Ende bekam, was ich wollte. Wenn es sich jedoch dabei um Schwarzberg handelte, änderte das alles. Ich war mir nicht sicher, ob ich den ehemaligen Leiter von Treedsgows Nervenheilanstalt nicht sogar noch mehr hasste als Damon, den Banditenanführer.
Andererseits wusste ich nicht mit Sicherheit, ob Schwarzbergs Experiment die Seiten hierhergebracht hatte. Vielleicht war es gekommen, um zu verhindern, dass ich sie fand. Bei der Vorstellung, dass der Folklore-Vernichter seine Mission zum Scheitern gebracht hatte, spürte ich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Weg meine Kehle hinauf. So oder so