Victoria. Helmut H. Schulz
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Die Herzogin von Kent verfügte neben einem eigenen Einkommen über etwa 6 Tsd. Pfund Sterling im Jahr, um die sie ständig bangte, weil die Bewilligung dieser Summe ganz vom guten Willen des Parlamentes, also vom politischen Wind abhing. Listig hatte es ihr Bruder Leopold durch eine verwickelte Heirats- und Sterbegeschichte, auf die einzugehen sich hier verbietet, zu einer hohen englischen Staatspension gebracht, aus der er nun gutherzig 3 Tsd. Pfund abzweigte, um das Einkommen seiner Schwester aufzubessern, und um in die Zukunft zu investieren. Das aber hätte er besser unterlassen, zumindest hätte er es nicht an die große Glocke hängen sollen; denn die Regierung fand nun, dass die Gesamtbezüge der Herzogin mit den freiwilligen Zuwendungen ihres Bruders, die ja auch aus der Staatskasse aufgebracht wurden, vollständig ausreichten. In Wahrheit verfügte jeder Angehörige des Hochadels über ein Vielfaches an Mitteln, als die Mutter der künftigen Königin von England. Die zeitgenössischen Quellen lesen sich schon merkwürdig; alle hatten sich anscheinend darauf eingestellt, dass unter Kensingtons Dächern eine künftige Queen heranwuchs, für die vorerst freilich keiner etwas tat. Nach diesem Bescheid des Parlaments ließ der ergrimmte Onkel Leopold die englische Regierung wissen, dass er sich fortan als Erziehungsberechtigter Victorias betrachte, da er ja für ihren Unterhalt sorge. Was auch immer diese Einlassung bezweckte, sie bewirkte gar nichts; bislang galt der Staat als verantwortlich für Englands Thronfolger, soweit es deren finanzielle Ausstattung betraf. Einige eigene Einkünfte in Deutschland hätte die Herzogin vielleicht realisieren können, liest man; hier fällt der Name eines Nestes Amorbach, allein sie hütete sich aus mehreren Gründen, ihre Selbstständigkeit allzu sehr zu betonen, weil ohnehin schon keiner von ihrer Anwesenheit in England größere Notiz nahm.
Es regierte nunmehr Georg IV., der Wüstling, weder ein großes politisches Licht, was man im England des 19. Jahrhunderts auch kaum mehr sein konnte, nicht als Monarch jedenfalls, noch durch einnehmendere menschliche Züge ausgezeichnet. Wir werden gleich noch einmal auf diesen Herren zurückkommen. Mit William IV. führen wir sogleich seinen Nachfolger ein, einen König, den die Zeitgenossen für närrisch hielten. Immerhin war er ein volkstümlicher König. Als solcher brachte er es, trotz seines Alters, noch auf 7 Jahre Regentschaft. Dick und kurzatmig schnaufend, tat er meist genau das Gegenteil von dem, was alle von ihm erwarteten oder erhofften. Victoria erlangte genau in dem Augenblick die Volljährigkeit, als Onkel William starb, was noch einmal Anlass sein könnte, die Mitwirkung der Vorsehung in Betracht zu ziehen. Das heißt, Victorias Schicksal wendete sich von einem auf den anderen Tag. Es gab noch ein kurzes Zwischenspiel durch eine Geburt, einen unerwarteten hocharistokratischen Neuzugang, aber die schon bemühte Vorsehung räumte auch diesen Bewerber noch aus dem Weg, da sie es sich offenkundig in den Kopf gesetzt hatte, die Tochter der Herzogs von Kent, Vickelchen genannt, zur englischen Königin und zur Begründerin des Victorianischen Zeitalters zu erheben. Sie sollte als Kaiserin, als Empress of India geschichtlich werden. Aber zurück zu den Anfängen.
Im Kensington Palast entwickelte sich nach dem Tode des Herzogs alles zu einem nervenden Gegenidyll bis in die letzte Zeit der Volljährigkeit Victorias hinein, weil sich jedermann, und noch mehr jederfrau, an dieses Kind klammerte, als einen Faustpfand der Macht, als den Joker im Ärmel. Die Witwe betrachtete sich sofort als hoch beamtete Beraterin ihrer Tochter auf Lebenszeit, sie ließ ihr Kind keinen Augenblick aus den Fängen, kaum aus dem Blick. Besuchern gegenüber spielte sie die sorgende Mutter, sie empfing prinzipiell mit Vickelchen auf dem Schoß. Sie lebte sich in die Rolle einer Queen Mother ein, einem offiziellen Titel, der ihr nie zugestanden wurde. Mutter und Tochter bewohnten nach dem Willen der Herzogin dicht nebeneinander liegende Zimmer; bis zu ihrer Großjährigkeit schlief Victoria mit ihr in einem Raum; keinen Augenblick lang blieb sie ohne Aufsicht. In paranoider Furcht, ihren Einfluss auf das Kind einzubüßen und an Macht, soweit es ihr eigenes künftiges Schicksal betraf, klammerte sich die Herzogin an ihre Tochter, was bei der Heranwachsenden zunehmend Widerwillen auslöste. In den ihr zugewiesenen Räumen schloss sich die Herzogin mit ihren Beratern völlig gegen die Außenwelt ab, sie wollte über jeden Besucher, über jeden Vorgang genauestens Bescheid wissen. Mit bitteren Klagen und Beschwerden fiel sie über ihre Tochter her, wenn sich Victoria nicht fügte, und schrieb ihr jeden ihrer Schritte vor. 1830 war Victoria 11 Jahre alt, als ihr Onkel William IV. König wurde. In diesen Jahren war es in London zu heftigen Ausschreitungen gekommen, die von den erschrockenen Lords beinahe für einen Umsturz gehalten wurden. Der Aufruhr hatte sich an einer Personalfrage entzündet, noch zu Lebzeiten Georg IV., dessen Frau, die hieß Karoline von Braunschweig, ein dermaßen ausschweifendes Leben geführt haben sollte oder auch wirklich geführt hat, dass sich der König, der auch ein ausschweifendes Leben führte, solange er physisch dazu imstande war, von ihr scheiden lassen wollte. Das war zwar im protestantischen England im Prinzip möglich, in diesem Falle aber nicht ohne Mitwirkung der Regierung zu haben. Der Karoline musste allerorten nachgeforscht werden, sogar in Italien. Endlich schien das belastende Material auszureichen, allein der Scheidung stellte sich ein unerwartetes Hindernis in den Weg. Seltsamerweise stellte sich die eher zum Puritanismus neigende englische Öffentlichkeit, was jedermann nicht etwa daran hindert, nach Herzenslust selber auszuschweifen, vor ihre hurende Königin Karoline, und Königin war sie ja immer noch. Während ihres Scheidungsprozesses warf die Menge den Lords die Fenster ein, und feierte Karoline. Georg, ein alternder Lebemann von 59, kam ziemlich schlecht bei der Geschichte weg. Geschieden wurde er natürlich doch, und die unwürdige Karoline wegen ihrer vielen Liebhaber aller königlichen Würden entkleidet, ihr Name aus dem Staatsgebet getilgt, und es hätte ihr noch weit schlechter ergehen können, wäre sie des Gezankes nicht überdrüssig geworden und einfach gestorben.
Was diese Vorgänge für die Kensington-Bande bedeuteten, liegt auf der Hand. Man war natürlich gut unterrichtet, was in der Öffentlichkeit vor sich ging, kannte die Stimmung des Volkes. Auch die Mächtigen, die Lords der Hocharistokratie, waren des Spiels mit unfähigen und ungeeigneten Skandalherrschern leid geworden. Eine Monarchie erträgt offenbar eine Menge, nur nicht den Verlust eines guten Rufes in Reihenfolge. Und in der Tat sind zwar Präsidenten gelegentlich abwählbar, formal im Amtsenthebungsverfahren, nicht aber gesalbte Könige.
Der Mutter, mit Vickelchen im Arm, war in ihrem Sekretär Conroy, der zuerst Gehilfe ihres Gatten gewesen ist, ein mächtiger und durchtriebener Verbündeter erwachsen. Er verwaltete ihr Vermögen, leitete ihre Korrespondenz, und lenkte ihre Wünsche und Machtgelüste nach seinen Intentionen, die nicht eben weit von denen seiner Brotgeberin entfernt gewesen sind. Welche Stellung Conroy in Kensington innehatte, ist kaum noch fraglich. Mit seiner Chefin stand er in einem Alter, verheiratet und mit Kindern reichlich gesegnet war er auch, und daran, dass die Herzogin ihm gewährte, was er verlangte, ist kaum zu zweifeln. In Kensington regierte mittlerweile außer ihm noch eine Gouvernante, eine Deutsche, namens Frau Lehzen, was nicht bedeutet, dass die Herzogin ihrer nächsten Berater, dem Bruder Leopold und unseres Baron Stockmar entraten musste.
Christian Friedrich von Stockmar entstammt einer sächsischen Kaufmannsfamilie. Er studierte etliches, darunter Medizin in Würzburg, und nannte sich einen Freund Friedrich Rückerts. Wie es ihn auf den Weg zum persönlichen Dauerberater