stand heute Nachmittag an. Noch war es ein ganz normaler Kundenauftrag, sicherlich mit Potential, wie Simon immer gerne sagte, wenn es um Werteinschätzungen der ihnen angebotenen Objekte ging. Simon saß an seinem Schreibtisch und sah sich einige Unterlagen durch, die ihm Frau Hoischen heute Morgen ins Büro gelegt hatte. Er fasste sich an die Innentasche seines Jacketts. Ihm fiel die Kamera wieder ein. Er hatte das Ölgemälde vor zwei Tagen fotografiert, an dem Tag als Edmund Linz es ihm präsentiert hatte. Die Kamera steckte nicht in seinem Jackett. Er hatte sie in seine Aktentasche gelegt, als er auf dem Parkplatz vor dem Gebäude ausgestiegen war. Er bückte sich nach seiner Tasche, die neben dem Schreibtisch lehnte. Er nahm die Kamera heraus und legte sie vor sich auf den Tisch. An der Kamera befand sich eine kleine Klappe, hinter der die Speicherkarte steckte. Er fummelte sie heraus und führte sie in den Kartenleser seines Computers ein. Die Karte funktionierte jetzt wie eine Diskette. Das Betriebssystem reagierte sofort und zeigte den Speicherinhalt an. Als er das Foto von dem Ölgemälde gemacht hatte, mussten sich noch andere Aufnahmen auf der Kamera befunden haben, dachte er, als ihm insgesamt achtzehn Dateien angezeigt wurden. Mit einem Doppelklick öffnete er eines der Bilder. Das Programm benötigte einige Sekunden, bis das Foto angezeigt wurde. Er war nicht überrascht, Colette und Florence vor einem gedeckten Tisch in einem Restaurant zu sehen. Er schmunzelte über die Pose der beiden. Simon ging die einzelnen Aufnahmen durch. Bilder von der Innenstadt und noch eines aus einem Restaurant. Die viertletzte Aufnahme war schließlich das Foto des Ölgemäldes. Er vergrößerte die Anzeige und ging so dicht wie möglich an das Bild heran, ohne zunächst den digitalen Zoom zu benutzen. Dadurch hatte er eine noch recht gute Auflösung. Die Aufnahme war klar, die Bildpixel traten noch nicht hervor. Erst jetzt zoomte er auf dem Monitor einzelne Bereiche des Bildes heran. Er sah noch einmal auf die Signatur und den Titel des Bildes. Er vergrößerte diesen Ausschnitt noch weiter, aber die Auflösung wurde zunehmend unschärfer. Er kopierte sich die Datei schließlich auf seinen Computer, in einen neuen Ordner. Dann löschte er die Fotographie des Ölgemäldes von der Speicherkarte, nahm sie aus dem Lesegerät und steckte sie zurück in die Kamera. Er wollte Colette den Fotoapparat wieder nach Hause mitbringen, weil er nicht wusste, ob sie ihre eigenen Bilder selbst schon gespeichert hatte. Er verstaute den Apparat in seiner Aktentasche. Dann holte er aus der untersten Schublade seines Schreibtisches eine dünne Mappe. Es waren die Unterlagen zu dem Ölgemälde, die ihm Edmund Linz gestern vorbeigebracht hatte. Es handelte sich sowohl um den von Edmund Linz selbst angefertigten Laborbericht als auch um das Gutachten von Professor Lehner aus Augsburg. Er hatte den zweiseitigen Bericht kopiert, bevor Heinz Kühler ihn mitgenommen hatte. Er zog die beiden Gummibänder ab, die die Mappe an jeder Ecke geschlossen hielten, zog die Papiere heraus und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Er fing mit dem Gutachten von Professor Lehner an. Er las sich noch einmal alles in Ruhe durch. Heute Nachmittag sollte eine zweite Expertise angefertigt werden. Diesen Bericht würde der neue Gutachter aber vorher nicht zu sehen bekommen. Simon lehnte sich in seinen Schreibtischstuhl zurück und überlegte. Das Labor würde demnächst auch Materialproben erhalten. Wenn alles auf die Echtheit des Bildes hinwies, würde es die Aufgabe des Kunst- und Auktionshauses Blammer sein, einen Herkunftsnachweis für das Bild zu finden. Hierfür gab es verschiedene Möglichkeiten. Der einfachste Weg war herauszufinden, ob das Bild jemals in irgendeiner Galerie ausgestellt war oder ob es ein Museum oder eine Privatsammlung gab, zu deren Bestand es einmal gehörte, auch wenn Edmund Linz dies bezweifelte. Warum eigentlich, dachte Simon. Es war egal, sie würden diese erste Möglichkeit in Betracht ziehen. Bei der Recherche ging es um Ausstellungskataloge. Wenn das Ölgemälde in einem dieser Kataloge beschrieben oder sogar abgebildet war, so galt dies als Herkunftsnachweis. Am eindeutigsten war aber die lückenlose Historie eines Kunstwerkes. Der Künstler stellt sein Werk selbst aus, verkauft es und es gibt vielleicht auch noch Korrespondenz zwischen ihm und den späteren Eigentümern. Simon erinnerte sich an ein Ölbild von Claude Monet, das der Kunsthalle Bremen gehörte. Es war ein großformatiges Gemälde, das Camille Doncieux, die erste Frau Monets, in einem schwarz-roten Seidenkleid darstellte. Simon erinnerte sich, dass das Bild von 1866 stammte und erst 1906 vom Kunstverein Bremen gekauft wurde. Dass tolle daran war, dass zwischen dem damaligen Kunsthallendirektor Gustav Pauli und Claude Monet eine Korrespondenz existierte, in der Monet sein eigenes Werk und dessen Werdegang beschrieb. Es war ein perfekter Herkunftsnachweis.
Simon las sich die Expertise von Professor Lehner ein zweites Mal durch, hier gab es nichts über die Herkunft des Gemäldes. Er dachte weiter nach. Bei der Überprüfung von Galerien war es schwieriger einen Herkunftsnachweis zu recherchieren. Galerien wurden zumeist privat betrieben. Es waren kleine Unternehmen, die auch kommerziell mit den Bildern umgingen, die bei ihnen ausgestellt waren. Es war ein wenig so wie bei dem Kunst- und Auktionshaus Blammer, nur dass Simon in seiner Firma keine Ausstellungen organisierte oder durchführte. Im Gegensatz zu einer Galerie bewahrten Museen ihre Dokumentation natürlich sorgfältig auf. Bei einer Galerie konnte so etwas verloren gehen, wenn sie unter Umständen im Laufe der Zeit von ihren Betreibern aufgegeben wurden und dann nicht mehr existierte.
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Simon hatte eigentlich gehofft, dass Claudius Brahm ihm die Arbeit mit dem Herkunftsnachweis abnehmen würde. Claudius Brahm hatte Restaurator gelernt und dann Kunstwissenschaften studiert. Er war noch keine vierzig und damit einer der jüngeren Sachverständigen in der Branche, was sich auch immer an seiner Kleidung ablesen ließ. Er trug selten einen Anzug oder Krawatte und war auch heute wieder in einem lässigen schwarzen Hemd und Bluejeans erschienen. Er war Experte für Kunstwerke des späten Neunzehnten Jahrhunderts. Er hatte darauf verzichtet, an einer Universität zu arbeiten und gar mit einer Promotion sein Fachwissen zu dokumentieren. Er arbeitete sofort nach seinem Studium als unabhängiger Gutachter und war durch einige Expertisen bekannt geworden. Das Kunst- und Auktionshaus Blammer zählte seit Jahren zu seinen Kunden. Darüber hinaus arbeitete er in ganz Deutschland für Museen, Galerien und andere Auktionshäuser.
Simons brennendste Frage galt der Herkunft des Gemäldes. Er hatte gewartet, bis Claudius Brahm das Bild fast eine halbe Stunde lang intensiv betrachtet und untersucht hatte. Heinz Kühler musste ihm eine Stehlampe besorgen, mit der er den Lichteinfall verändern konnte. Simon stand neben den beiden, sagte aber zunächst kein Wort. Claudius Brahm machte sich zwischendurch immer wieder Notizen. Schließlich klappte er seine Mappe zu und schaltete auch das Licht der Stehlampe aus. Simon nahm es als Zeichen und trat an ihn heran.
»Und, was meinen Sie?«, fragte er erwartungsvoll.
»Gab es das schon einmal bei Ihnen?«, begann Claudius Brahm mit einer Gegenfrage. »Ich habe so etwas zumindest noch nie bei einem Haus Ihrer Größe gesehen. Gut, jeder weiß, dass die Stars in Ihrer Branche, die Sotheby`s oder die Christie`s ein solches Potential angeboten bekommen, aber Firma Blammer aus München, entschuldigen Sie, dass ich so direkt bin.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Simon. »Ich gebe ja selbst zu, dass so ein Künstler sonst in einer anderen Liga gehandelt wird, aber es ist dafür ja auch keines seiner berühmten Werke.«
»Ja, Mensch, das ist doch egal«, sagte Claudius Brahm euphorisch. »Sie haben hier wahrscheinlich einen Gauguin, Eugène Henri Paul Gauguin, französischer Expressionist und Symbolist, ein Kind des Impressionismus, ein Begründer der Moderne, Motor einer ganzen Generation von hervorragenden Malern, ein Genie für diejenigen, die es erkennen konnten und noch heute erkennen können.«
Simon sah ihn schweigend an. Er wusste, dass Claudius Brahm immer sehr direkt war. Eine Art, mit der nicht jeder zurecht kam, zumal im Auktionsgeschäft und gegenüber den Kunden immer eine gewisse Würde gewahrt werden musste. Er selbst betrachtete die Sache nüchtern. Es ging ihm nur um die fachliche Arbeit. Ihm war schon bewusst, dass das Gemälde etwas Besonderes war, aber diese Reaktion hatte er nicht erwartet, diese Euphorie überraschte ihn schon ein wenig. Natürlich, ein Werk des Malers Paul Gauguin, das gab es bisher nicht in der Geschichte des Hauses Blammer, aber es gab andere namhafte Künstler, die hier bereits erfolgreich in Auktionen gehandelt wurden. Es gab den Liebermann, Drucke von Klee und Macke, einige alte Niederländer, einen Schüler Rembrandts und noch mehr.
Heinz Kühler unterbrach die Gedanken seines Chefs. »Sie sagten eben