Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens. Helmut Lauschke

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ausgesessenen, gepolsterten Stühlen. Eine Schwester trank Tee im angrenzenden „Nurses tearoom“. Da die Ziehharmonikatrennwand zwischen den Teeräumen aufgeschoben war, ergab sich ein Gespräch. Die Schwester, die den Namen Donata trug, wollte von Dr. Ferdinand erfahren, ob er am Hospital arbeiten werde. Er erzählte ihr seine Geschichte in Kurzfassung, worauf sie erwiderte, dass sie mit einem Chirurgen in Zivil lieber zusammenarbeiten würde als mit einem in Uniform. „Da ist immer ein Gefühl der Angst, wenn die Menschen hier einem Mann in südafrikanischer Uniform begegnen“, meinte sie. Dr. Ferdinand bekundete seine Sympathie mit der leidenden Bevölkerung und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass der Krieg bald zu Ende gehen möge. Beide hatten die Tassen geleert und sich von den Stühlen erhoben. Durch getrennte Türen verließen sie den Teeraum. Dr. Ferdinand ging zum orthopädischen Operationssaal, wo der Verletzte bereits in Narkose lag und mit Tüchern abgedeckt wurde. Eine junge Schwester half Dr. van der Merwe, der sich beim Überziehen der Handschuhe dem Operationstisch näherte, in den sterilen Kittel. Da die offizielle Dienstzeit beendet war, und er den orthopädischen wie chirurgischen Spät- und Nachtdienst zu versehen hatte, stand ihm lediglich die Operationsschwester zur Seite. Dr. van der Merwe prüfte die Durchblutungsverhältnisse der überhängenden Haut- und Muskelfetzen, die verschmutzt und an den Rändern teilweise verschmort übrig geblieben waren. Die Weichteilreste waren jedoch schlecht durchblutet und eigneten sich für keinerlei Wunddeckung. Die gesplissenen Enden an Schien- und Wadenbein stachen mit messerscharfen Kanten aus einem Weichteilkrater spitz heraus. Dr. van der Merwe entschloss sich daher zur Oberschenkelamputation, die er rasch und ohne größeren Blutverlust durchführte und mit einem elastischen Stumpfverband abschloss. Ihm assistierte die erfahrene und manuell überaus geschickte Operationsschwester, als sei es für sie eine tägliche Routine. Fast ebenso lange dauerte die Versorgung der vielen Hautriss- und Weichteilschnittwunden an der Stirn, dem linken Augenoberlid, dem rechten Ohr, am Brustkorb und an beiden Händen und Armen, da die verkohlten Wundränder ausgeschnitten und genäht werden mussten. Da der Blutdruck abgefallen war und der Puls raste, wurde die Schwesternschülerin mit dem Testblut des Patienten zum Labor geschickt, um eine Blutkonserve heranzuschaffen. „Das ist ein erfreulicher Zufall“, sagte Dr. van der Merwe, als die Schwesternschülerin nach zwanzig Minuten mit einer Konserve der Blutgruppe „0“ zurückkam. Das Blut wurde sofort angehängt, und der Blutdruck kehrte langsam zu Werten zurück, die als unterste Norm angesehen werden konnten. Die Herzfrequenz blieb dagegen weiterhin hoch. Dr. van der Merwe hob mit den anderen den frisch Operierten vom Tisch auf eine fahrbare Trage, die der Anästhesist und die Schwesternschülerin in den Aufwachraum rollten. Dort wurde ihm eine Sauerstoffmaske aufgesetzt, und eine Schwester kontrollierte Blutdruck und Puls. Da ein Blasenkatheter gelegt war, notierte sie auch die ausgeschiedene und in dem angeschlossenen Beutel aufgefangene Urinmenge. Dr. Ferdinand hatte sich umgezogen und stand vor dem Operationshaus, aus dem der beinamputierte Junge mit Verbänden an Kopf, Brustkorb, Armen und Händen auf der Trage, begleitet von einem Pfleger und einer Schwester, herausgefahren wurde, um zum orthopädischen Männersaal gebracht zu werden, der dem Operationshaus gegenüberlag. Die Sonne war im Begriff unterzugehen, sie verabschiedete den Tag mit einem mächtigen glutroten Feuerball, der vom Horizont aus die zugewandten Gebäudeseiten mit gleißendem Licht überzog und die Fenster blutrot entzündete, dass es dem betrachtenden Auge schmerzte.

      Dr. Ferdinand wusste nicht recht, was er an diesem Abend tun sollte. So ging er in Gedanken versunken zwischen den Stationen entlang, aus denen Klagerufe, schmerzvolles Stöhnen, das Lachen spielender, das Weinen hungriger und das Schreien jener Kinder mit unsäglichem Heimweh durch die geöffneten Fenster drangen und sich draußen miteinander vermischten. Er passierte die Säle der Tuberkulosekranken, einen für Männer und einen für Frauen, wo eine größere Zahl Patienten vor den Eingängen auf Stühlen oder dem nackten Boden saß. Sie erheiterten sich mit Spielen, bei denen kleine Steine auf einem soliden Brett mit zahlreichen Aushöhlungen vorwärts und rückwärts gesetzt wurden. Auch tranken sie Alkohol aus Flaschen und Büchsen. Es waren vor allem die älteren Frauen, die eine Stummelpfeife im Mund hielten und etwas rauchten, das nach einer Mischung aus verschiedenen Kräutern und Zusätzen von Bitterstoffen roch. Hier wurde gehustet und abseits der Eingänge gespuckt, dort, wo Ziegen vergnüglich weggeworfenes Brot knabberten und abgemagerte Hunde auf der Suche nach Nahrung hin und her streunten, auch wenn es nur ein abgekauter Knochen mit letzten, in Verwesung übergegangenen Fleischanhängseln war. Bei seinem Gang „durch ein versunkenes Leben“ begegnete Dr. Ferdinand auf rollstuhlartigen Gestellen sitzenden Menschen, deren Gesichter der Ferne zugewandt waren und keine Notiz vom Vorbeigehenden nahmen. Andere psychiatrisch Kranke, zerlumpt oder halb nackt mit erdigen Füßen, die das Wasser nie gesehen hatten, kamen grinsend und lamentierend auf ihn zu und verfolgten ihn über eine längere Strecke. Vor einem vollgestopften, engen Raum saßen querschnittsgelähmte Männer mit muskulösen Armen und spindeldürren Beinen, die Karten spielten, eine Zigarette drehten, diese rauchend von Mund zu Mund weiterreichten und den Stummel, der nicht kürzer sein konnte, auf den Boden warfen. Auch sie tranken Alkohol und schauten dem Vorübergehenden neugierig ins Gesicht, als hätten sie ein schlechtes Gewissen und fürchteten, verpfiffen zu werden. Doch setzten sie rasch das Kartenspiel fort, bei dem Münzen verstreut herumlagen und den Besitzer wechselten. Die Sonne war untergegangen, die Hitze des Tages ging in den Abend hinein, und für Dr. Ferdinand kündigte sich das zweite Wochenende in Einsamkeit und Unsicherheit an. Er sehnte sich nach einem Zuhause, das ihm abhanden gekommen war. Er hatte Kinder, die nicht wussten, wo der Vater war. Er brauchte endlich mal Frieden mit sich und der Welt. War das hier der Ort, um diesen Frieden zu bekommen? Aus dem „versunkenen Leben“ tauchte er auf und schritt gemächlich über den von Menschen belagerten Vorplatz mit dem penetranten Uringeruch und durch den Haupteingang, dessen verbogene Gittertore beim Öffnen Furchen in den Boden kratzten. Er ging einen abkürzenden Weg an mehreren Baracken vorbei, die auf Stangen und Rädern standen, in denen die Militärärzte mit ihren Frauen und Kindern wohnten. Er ging zwischen Stacheldraht und Zäunen, ging an Bäumen vorbei, deren Äste gebrochen waren und zwecklos herumlagen. Ihm kamen magere Hunde entgegen, die den Schwanz einklemmten, wenn der Abstand zu ihm zu gering wurde. Im Wohngebiet „For Whites Only“ waren es nur noch wenige Meter bis zu dem Haus, in dem ein kleines, vollgepferchtes Schlafzimmer für ihn bereitstand. Er ging ins Haus, dessen Tür offen stand, ging durch den Wohnraum mit den schief hängenden, expressionistischen Bildreproduktionen, deren Künstler vor dem Ersten Weltkrieg auf den Gipfeln des Ruhmes standen, ging zwischen leeren Stühlen und Sesseln entlang, berührte mit dem linken Knie den niedrigen Tisch, auf dem drei geleerte Dumpies der Marke ‘Guinness’ standen und in einer aufgeschlagenen Illustrierten halb nackte Frauen über ihr Sexleben erzählen. Ferdinand ging in die Küche, wo die Tür des Eisschranks halb offen stand, wo ein angefangenes Stück Butter auf dem Rücken lag und auf dem geöffneten, zerknitterten Stanniolpapier zerfloss, wo die Schmierwurst fast völlig ausgehöhlt von der Anrichte auf den Boden gerollt war, wo er aus dem Eisschrank die halb geleerte Flasche mit Mineralwasser nahm und ein Glas der lauwarmen Flüssigkeit trank. Er ging an einer angelehnten Tür vorbei, wo aus dem Spalt das rhythmische Schnarchen des Erschöpften bis in den Wohnraum drang, in den er zurückkehrte und in der Illustrierten blätterte. Dr. Ferdinand dachte über ein Leben nach, und dazu brauchte er, seiner Gewohnheit entsprechend, Musik. Er legte Berlioz, die phantastische Symphonie, die dieser mit siebzehn Jahren geschrieben hatte, auf den Plattenteller und hörte bei gedämpfter Lautstärke zu. Dabei lehnte er sich in dem Sessel, dessen Flecken vom Genuss verschiedenster Speisen und von der Vorliebe zu einem guten Bier erzählen konnten, zurück und zündete sich barfüßig eine Zigarette an. Was hielt das Leben für ihn bereit? Die Musik erzählte ihm von den Höhen und Tiefen, von großer Freude und dem Gefühl der Einsamkeit und Trauer. Seine Vergangenheit war gewiss nicht rosig, sonst säße er nicht hier im fernen Afrika mit seinen Sprachen und Gebräuchen, die ihm fremd waren, mit einem alten, abgegriffenen Portemonnaie,in dem außer zwei deutschen Groschen und den geliehenen restlichen dreihundert südafrikanischen Rand kein Geld zu finden war. Er sah durch das Fenster, vor dem Militärfahrzeuge mit aufgeblendeten Lampen hin und her rasten, schloss die Tür, damit der Sandstaub von der aufgewühlten Straße nicht ins Haus kam, hörte das Schimpfen und laute Sprechen der weißen Afrikaner aus den Nachbarhäusern, hörte das Schreien ihrer Kinder, das Argumentieren ihrer Frauen, und das alles, während Hector Berlioz in seiner Sprache, die ein Wörterbuch nicht braucht, vom Leben erzählte. Dr. Ferdinand trank das Mineralwasser zu Ende und zündete sich die zweite Zigarette

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