Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens. Helmut Lauschke

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Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens - Helmut Lauschke

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hatten Verbände an Händen, Armen und Beinen. So verlief der Vormittag bis etwa ein Uhr, und nach einer Mittagspause ging es um zwei Uhr weiter mit Untersuchungen, Wundversorgungen und Einrenkungen von zwei Schultergelenken und einem Hüftgelenk bis in den späten Nachmittag hinein. Dr. Ferdinand, der aufgrund der noch fehlenden Arbeitserlaubnis zum bloßen Zuschauen verurteilt war und von seinem Stuhl aus das hektische Treiben in dem überhitzten Raum verfolgte, war beeindruckt vom Ausmaß der geleisteten Arbeit und den primitiven Bedingungen, die hier herrschten. Er verneinte es innerlich, dass je ein Krankenhausarzt in Deutschland ein solches Pensum unter derartigen Bedingungen schaffen würde; von denen wäre mit großer Wahrscheinlichkeit eine Arbeitsverweigerung zu erwarten oder im günstigsten Falle eine Forderung nach Stresszulage. Hier im afrikanischen Alltag eines Arztes war es so, dass das Pensum manchmal nicht ganz bewältigt werden konnte. Dann warteten die Patienten mit Geduld auf bessere Zeiten, legten sich neben den Haupteingang und übernachteten auf einer Decke, einer Pappe oder ausgelegtem Zeitungspapier, da mit Sonnenuntergang und Eintritt der Sperrstunde jede Bewegung auf offenen Straßen und Wegen untersagt war. Das Uniformhemd war über dem Rücken durchgeschwitzt, als Dr. van der Merwe gegen sechs Uhr den Orthopädieraum verließ und sich von Dr. Ferdinand mit dem Zusatz verabschiedete, dass er sich nun auf ein kaltes Bier freue. Dr. Witthuhn saß noch hinter seinem ausladenden Schreibtisch und setzte mit leicht vorgehaltener Stirn die Unterschriften in großen Zügen auf einige Schriftstücke in den hintereinander aufgeklappten Fächern der Schriftmappe. Dabei erwähnte er, dass von Pretoria keine Nachricht gekommen sei. „Wir werden abwarten“, meinte er. Dr. Ferdinand saß auf demselben Stuhl, den er während der Morgenbesprechung eingenommen hatte. Hinter seinem Schweigen lag Deutschland, das er vor zwei Wochen mit Schulden und einer Familie mit fünf Kindern im Alter von siebzehn bis vierundzwanzig Jahren verlassen hatte. Er kam mit einem Hundert-DM-Schein und drei Groschen ins Land und hatte sich fünfhundert südafrikanische Rand geliehen, die er von seinem ersten Gehalt zurückzahlen wollte, um unabhängig von anderen Menschen ein neues Leben zu beginnen. Da dieses Geld fast aufgebraucht war, drängte es ihn, so früh wie möglich tätig zu werden. „Mach dir jetzt keine Sorgen, du hast ein Bett und hast zu essen, wir werden das Kind schon schaukeln.“ Das war Dr. Witthuhn, da sprach sein Herz.

      Es war der sechste Morgen im Norden Namibias. Die aufgehende Sonne erhob sich als glutroter Ball; ihr gleißendes Licht verfärbte die grün gestrichenen Wände mitsamt den schief übereinander gestapelten Kartons in ein feierliches Violett, das das Gemüt mit dem Gefühl der Trauer, der hilflosen Einsamkeit, aber auch mit der Erhabenheit eines unbekannten Schicksals umgab. Dr. Ferdinand hatte keine gute Nacht gehabt. Da gab es die Erinnerungen an Deutschland und seine Familie, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen, und um Mitternacht war es ein zwanzigminütiges Böllern schwerer Haubitzen, wobei seine Pritsche mit dem ganzen Drumherum in ein quietschendes Zittern geriet. Die wuchtigen, furchterregenden Geschossdetonationen in der Ferne mit den unfassbaren Wellen eines qualvollen und allmählich verstummenden Nachhalls über die wehrlosen Weiten der Angst und Hilflosigkeit erinnerten ihn an die Bombennächte seiner Kindheit und an das Heranrücken der russischen Panzer.

      Dr. Witthuhn schien davon nicht sonderlich ergriffen, das Gesetz der Gewöhnung hatte ihn bereits eingenommen. Doch mit dem ersten Kaffee, den beide stehend in der Küche tranken, drückte er sein Mitleid mit den unschuldigen Menschen und besonders den völlig hilflosen Kindern aus, die durch den verheerenden Krieg verletzt und getötet wurden. „Lass uns hoffen, dass das bald zu einem Ende kommt. Die Menschen haben hier genug gelitten.“ Sie setzten sich in seinen BMW. Mehrere Startversuche waren nötig, um die Kolben des Motors ins Laufen zu bringen; dann fuhren sie über aufgewühlte Sandstraßen zum unweit gelegenen Hospital, wobei sie eine mit einer Schranke versehene Straßensperre zu passieren hatten. Die Wachhabenden, denen das Auto als auch sein Fahrer bekannt waren, hoben die Schranke mit einem freundlichen Gesicht und einem afrikaans gesprochenen „Guten Morgen“, ohne nach dem von der Militärbehörde ausgehändigten Ausweis zu fragen, dessen Vorzeigen an diesem Kontrollpunkt, der die Grenze zum Wohngebiet „For Whites Only“ markierte, zur Pflicht angeordnet war. Das Hospitalgelände war von einem zweieinhalb Meter hohen Maschendraht umzäunt. An der etwa sechs Meter breiten Einfahrt war der linke Torflügel völlig verbogen und unbeweglich und stand offen, während der rechte Flügel, der weniger verbogen war, ein so großes Loch im Maschendraht hatte, dass ein Erwachsener bequem durchsteigen konnte. Ein magerer, etwas älterer Ovambo mit zerrissener Hose öffnete dieses Tor nicht ganz ohne Anstrengung, indem er es mit beiden Händen in gebückter Haltung weit unten an der einst senkrechten Rahmenstange fasste und bewegte. Der Vorplatz war zur frühen Morgenstunde noch belagert von den Menschen, die hier übernachtet hatten und Wäschestücke zum Trocknen über das Geländer vor der Rezeption hängten oder auf einer freien Bodenstelle ausbreiteten. Mütter zogen ihre Brüste aus Kleidern und Tüchern hervor und führten sie an die Münder ihrer Säuglinge. Dazu belebten Neuankommende, die erkrankte Familienangehörige an Händen und Armen führten oder von einem Eselskarren mühsam herunterholten, in noch überschaubarer Weise den Platz.

      Es war Routine zur morgendlichen Stunde, dass Dr. Witthuhn mit seinem Besucher, dem noch zur Untätigkeit verdammten Kollegen aus Deutschland, mit einem freundlichen Gruß zum Wärter durch das geöffnete Tor bis an die Südmauer mit den hoch liegenden schmalen Querfenstern des Ärztekasinos heranfuhr. Beim Gang zu seinem Büro begegneten ihm Menschen weißer und schwarzer Hautfarbe, die ihn in Gespräche über die letzten Vorkommnisse im Hospital und die Geschehnisse in den schwarzen Wohngebieten verwickelten. Dabei erfuhr er, dass einige SWAPO-Kämpfer Unterschlupf unweit des Dorfes gefunden hatten und ein Warenlager am westlichen Dorfausgang mit Säcken voller Mais und einem größeren Bestand an Mahangu niedergebrannt wurde.

      Die meisten der Kollegen, die Matronen und die Apothekerin saßen bereits in seinem Büro, als Dr. Witthuhn, gefolgt von Dr. Ferdinand, eintrat. Er nahm seinen Platz hinter dem großen Schreibtisch ein und eröffnete die Morgenbesprechung. Er teilte mit, dass das Wasser für das ganze Hospital ab zehn Uhr abgedreht werde, wegen Reparaturarbeiten an der Hauptwasserleitung, die unweit des Wasserturms geplatzt sei. Eine mutwillige Beschädigung war nicht auszuschließen, da diese Leitung erst vor sechs Wochen neu verlegt worden ist. Der Turm habe beträchtliche Wassermengen verloren, die den hinteren Platz zum Hauptmagazin und zu den Garagen überflutet hatten. Eine der Matronen erwähnte, dass es für das Personal unmöglich sei, von den Wohnstellen in den angrenzenden Baracken rechtzeitig zur Frühschicht zu erscheinen, da der aufgeweichte Boden unpassierbar sei. Sie mussten mit Autos geholt werden, von denen aber nur eines fahrbereit zur Verfügung stand. Dr. van der Merwe drückte seine Besorgnis darüber aus, dass die gebuchten Operationen nicht durchgeführt werden können und der orthopädische Männersaal wie der Frauensaal überbelegt seien; einige Patienten belegten bereits auf dem Boden ausgelegte Matratzen. Dr. Hutman fügte hinzu, dass es in seinen chirurgischen Sälen nicht besser sei, und dass einige Operationen, die für den Tag zuvor gebucht waren, nicht durchgeführt wurden. Da an diesem Tag der Spezialist aus Ondangwa erwartet werde, habe er zwei größere chirurgische Eingriffe auf die Operationsliste gesetzt. Das Wasserproblem ließ sich jedoch nicht auflösen, es sollte auch in Zukunft ein kritischer Punkt im Betriebsablauf des Krankenhauses sein. Das Ergebnis der Besprechung war, dass angeordnet wurde, die nötige Vorsorge zu treffen und alle verfügbaren Behälter und Eimer unverzüglich mit Wasser zu füllen und auf den Stationen bereitzuhalten. Da die zentrale Sterilisation von zehn Uhr ab außer Funktion sei, sollten die verpackten sterilen Instrumente nur für Notfalloperationen gebraucht werden.

      Die Ärzte verteilten sich auf die verschiedenen Stationen, um die tägliche Saalrunde vorzunehmen. Dr. Ferdinand folgte diesmal dem mit einigen Schritten in strammer, fast militärischer Manier vorausgehenden Dr. Hutman. Er wies Menschen, die sich mit irgendwelchen Anliegen an ihn wenden wollten, bei seinem Gang zum Saal Nummer fünf ab, ohne ihnen sein Gesicht zuzuwenden. Die Schwester und zwei Schwesternhelferinnen erwarteten ihn, als er mit forschem Schritt den Saal betrat. Ihre Gesichter verrieten Unsicherheit und so etwas wie Angst. Aber warum? Diese Frage beschäftigte Dr. Ferdinand, als er, den Schwestern die Hand reichend, von Dr. Hutman als ein Besucher aus Deutschland vorgestellt wurde. Eine herzliche Atmosphäre war hier nicht zu erwarten, das wurde gleich zu Beginn deutlich; und so blieb auch eine Begrüßung mit den einfachsten Zeichen einer menschlichen Herzlichkeit vonseiten des Dr. Hutman

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