Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens. Helmut Lauschke
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Vom ersten Tag an redeten sich Dr. Leon Witthuhn und der deutsche Kollege mit den Vornamen an, wenn sie unter sich waren. „Bleib noch hier, Hartmut, ich rufe Pretoria an, ich will wissen, wie weit es mit deiner Arbeitserlaubnis ist.“ Dr. Witthuhn ließ sich durch seine Sekretärin verbinden. Frau van Vuuren vom „Medical & Dental Council“ gab zu verstehen, dass sein Anschreiben mit dem Begleitschreiben von Dr. Eisenstein und den ins Englische übersetzten und beglaubigten Zertifikaten des Dr. Ferdinand der begutachtenden Kommission vorliegen. Mit einer Entscheidung sei in den nächsten Tagen zu rechnen. Dr. Witthuhn legte den Hörer mit der Bemerkung auf, dass sich Pretoria bislang kooperativ gezeigt hatte, wenn es um die ärztliche Arbeitserlaubnis ging. „Doch deinen Facharzt werden sie nicht anerkennen, dafür musst du dich einer Prüfung in Südafrika unterziehen. Ich möchte dir das jedoch nicht zumuten und rate dir aus meinen Erfahrungen und der Tatsache, dass wir hier in einem Kriegsgebiet sind, von einer solchen Prüfung ab.“ Es war ein gut gemeintes Statement des Superintendenten, das darauf hinzielte, seinen deutschen Kollegen vor einer derartigen Stresssituation zu bewahren. Dr. Ferdinand verstand die Intention eines solchen Ratschlages; doch bedrückte ihn die Tatsache der Nichtanerkennung dessen, was er seit vielen Jahren war. Was hatte er persönlich in Afrika zu erwarten? Mit einem Bündel ungelöster Fragen, die sein Leben betrafen, ging er zum orthopädischen Männersaal, um an der Saalrunde teilzunehmen. Sie war bereits im dritten Raum, der acht Betten umfasste, angelangt. Dr. van der Merwe, ein uniformtragender Arzt von etwa dreißig Jahren, war verantwortlich für die orthopädischen Säle. Sein fast quadratisches Gesicht mit den leicht abstehenden Ohren eines Farmers strahlte Freundlichkeit aus. Er führte die Runde, gefolgt von einer männlichen Pflegekraft und zwei Schwestern, und er tat es in einer angenehm menschlichen Weise. Er begrüßte die Patienten mit Respekt und manchmal mit einem Gefühl des Mitleids, und er befragte sie gründlich über ihr Befinden. Seine Augen hefteten sich an den Temperaturverlauf auf dem Messblatt und bekamen einen ernsten Ausdruck, wenn der Pegel die 38,5-Marke überschritt. Wenn das der Fall war, begann das Frage-und-Antwort-Gefecht zwischen ihm und dem Pflegepersonal, das sich neben und hinter ihm verteilte. Dieses Gefecht, das die Note „ernsthaft“ verdiente, wurde in einer schlichten und fairen Weise ausgetragen. Es war bei einigen Patienten offensichtlich, dass eine Wundinfektion vorlag. Die Antwort auf seine Frage, ob die Antibiotika wie vorgeschrieben verabreicht wurden, entsprach ebenso der Wahrheit, wenn sie lautete, dass sie „out of stock“ seien, weil das mit der Mitteilung der Apotheke des Hospitals übereinstimmte. Die Situation war zu ernst, als dass Dr. van der Merwe zusätzlich noch in einen Anfall von Wut und Beschimpfung verfallen musste. Er hielt die Emotionen unter Kontrolle, öffnete mit einer schlecht schneidenden Schere den Verband, entfernte einige oder alle Hautnähte mit der Skalpellklinge, die er zwischen Daumen und Zeigefinger führte, und beendete erfolgreich den Eingriff durch Entlastung der Wunde, aus der Eiter quoll und sich auf die sterilisierte papierne Unterlage und das Bettlaken ergoss. Es wurde eine offene Wundbehandlung angeordnet und man vermerkte die Zeiten der Verbandswechsel im Krankenblatt. Das entsprach durchaus den Behandlungsregeln einer septischen Wunde, wenn man die Augen vor den hygienischen Missständen um den Patienten herum verschloss. Die Ausstattung des Krankensaales war völlig unzureichend, die Betten waren alt und gebrechlich, der nackte Schaumgummi kam unter den Laken zerrissen und braun gefleckt zum Vorschein. Das Ausmaß der Primitivität entsprach eher den Darstellungen eines Krankensaales zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, es widersprach allen Errungenschaften der modernen Medizin.
Viele Patienten hatten Gipsverbände an den Armen oder Beinen. Die Gipsschienen zur Ruhigstellung von Knochenbrüchen zumeist distaler Extremitätenabschnitte ergaben oft keinen therapeutischen Sinn, weil sie entweder aufgeweicht oder gerissen waren. Die Bewegungen über der Bruchzone standen der Knochenheilung demzufolge mit der Gefahr einer Falschgelenkbildung entgegen. Waren Rundgipse an den Gliedmaßen angebracht, die nach Abschwellung des Weichteilgewebes zur Ruhigstellung des Knochenbruches durch ein Mehr an Festigkeit besser geeignet waren, so fand Dr. Ferdinand, dass einige Beingipse in den körpernahen Abschnitten nicht nur kotverschmiert waren, sondern dass das ganze Bein eine Biegung aufwies, die eine anatomiegerechte Heilung und damit die Wiederherstellung der vollen Funktion in Frage stellte. Knochenbrüche anderer Patienten wurden durch Extension behandelt. Es handelte sich hier vorwiegend um Schaft- und Halsbrüche des Oberarm- oder Oberschenkelknochens als auch um Diagnosen der zentralen oder oberen Hüftkopfverrenkung. Das Zuggewicht, das an den quer durch den Ellbogenhöcker oder die Vorbuchtung des Schienbeinkopfes geschlagenen Drähten ansetzte, deren Enden an einem Spanngerät festgemacht waren, das mit einer auf einer Rolle laufenden Schnur verbunden war, um die Knochenbrüche in eine achsengerechte Stellung zu ziehen, bestand oftmals aus angehängten Beuteln, die mit Steinen gefüllt waren, oder aus einem oder mehreren Infusionsbehältern. Daneben waren Vorrichtungen zu sehen, bei denen die Zugschnur neben der Rolle lag, die Rolle falsch platziert oder aus Rollenmangel erst gar nicht angebracht war. Die Notwendigkeit zur Improvisation aus Mangel an Geräten war ebenso offensichtlich wie die, das vorhandene, wenn auch völlig veraltete und fast untaugliche Gerät mit der Logik des klinischen Verstandes zur Anwendung zu bringen.
Im letzten Achtbettzimmer lagen Patienten, die Grund zu ernster Sorge gaben, entweder weil die Wundinfektionen unbeherrschbar schienen oder weil andere Komplikationen der Wundheilung vorlagen. Unter diesen Patienten waren jene, deren Amputationsstümpfe am Unterschenkel infolge einer schlechten Blutzirkulation klafften und den Fäulnisgeruch toten Gewebes verströmten. Andere Patienten hielten ihre Hand mit gerunzelten, mumifizierten Fingern hoch. Ein anderer, etwa fünfundzwanzigjähriger Patient, der bereits sein drittes Jahr in diesem Bett zubrachte, saß mit großflächigen Druckgeschwüren über dem Gesäß auf unnatürlich verbogenen Beinen und bewegte seine etwas weniger verbogenen Arme fast gespensterhaft. Ursache seines Leidens war die angeborene unvollständige Knochenbildung (Osteogenesis imperfecta), weshalb er schon im Kindesalter mit Schienen und zahlreichen Operationen, insbesondere an den Beinen, behandelt wurde. Doch das alles führte zu keinem anhaltenden Erfolg. Das Gehen an Stöcken und Krücken, das in seinen Kindheitsjahren noch möglich war, bescherte ihm Brüche an den Armen, die trotz vieler Behandlungsversuche in Fehlstellungen endeten, so dass er seit über zehn Jahren gehunfähig war. Die Eltern und Geschwister brachten ihn auf einem Eselskarren ins Krankenhaus, da sie ihn zu Hause nicht mehr versorgen konnten. Einen Rollstuhl gab es nicht.
Die Saalrunde erwies sich als ein afrikanischer Augenöffner. Dr. Ferdinand sah hier eine Wirklichkeit, die er in Deutschland nur aus Büchern kannte. Nach der Saalrunde folgte ein Gespräch bei einer Tasse Tee im „Doctors tearoom“, der durch eine Glaswand vom Flur der gegenüberliegenden Operationssäle getrennt war. Hier sprach Dr. van der Merwe in sehr menschlicher Weise die Komplexität der Probleme und die daraus resultierenden Schwierigkeiten in der Behandlung der Patienten, für die er zuständig war, an. „Die meisten Frakturen behandeln wir konservativ“, sagte er, „nur in einzelnen Fällen habe ich eine Knöchelfraktur mit einer Schraube fixiert.“ Es waren der Mangel an Instrumenten und Material sowie die fehlende praktische Erfahrung, weswegen schwerere Verletzungen mit schwierigen oder Mehrfachbrüchen nach Windhoek gebracht wurden. In einigen Fällen assistierten ihm bei Operationen die „Consultants“, die zweimal in der Woche vom Lazarett des Militärflughafens in Ondangwa, das etwa vierzig Kilometer ostwärts von Oshakati lag, gebracht wurden. Doch diese „Consultants“ in Offiziersrängen nicht unter einem Colonel waren in der Regel Spezialisten der Chirurgie, die Verletzungen mit Frakturen per Flugzeug direkt in das Militärhospital nach Pretoria verlegten. Auf die Frage, ob die Arbeit ihn nicht überfordere, antwortete Dr. van der Merwe, dass er froh sei, seine