Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens. Helmut Lauschke
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Die Saalrunde zog sich über eine Stunde hin, da nicht nur alle vierunddreißig Betten belegt waren und acht Patienten ernst zu nehmende postoperative Komplikationen aufwiesen, sondern weil in drei Räumen Matratzen zwischen den Betten ausgelegt waren, auf denen Kranke lagen, die in einem stabilen, aber noch nicht entlassungsfähigen Zustand waren oder noch auf die Operation warteten. Unter den Letzteren war ein alter, abgemagerter Patient, der hellrotes Blut durch seinen After verlor. Dieser Patient stand auf der Liste für den Spezialisten aus Ondangwa, der inzwischen eingetroffen war und an der fast beendeten Runde mit dem Ausdruck eines zurückhaltenden Gentlemans in der Uniform eines höheren Offiziers teilgenommen hatte. Seine Kommentare zu den letzten Patienten waren fundiert. Sie entsprachen einer größeren Erfahrung und wurden theoretisch klar und logisch unterlegt. Dieser Spezialist war Professor der Chirurgie an der Universität von Cape Town. Er sprach ruhig, als sei er mit den Problemen des Hospitals vertraut. Dr. Hutman, der rasch von seinem hohen Ross heruntergestiegen war, führte ihn in devoter Haltung, wobei er allerdings den strammen Schritt des Leutnants beibehielt, zum zweiten Patienten mit der Seromentleerung nach Schilddrüsenoperation und dann zum dritten Patienten, aus dessen Bauchhöhle er Eiter nach Entfernung des Wurmfortsatzes aspiriert hatte, und zu dem alten abgemagerten Mann, der aus seinem After blutete. Der letzte Patient, zu dem er den Spezialisten führte, war ein etwa vierzigjähriger Mann mit bereits diagnostiziertem Magenkarzinom.
Beim ersten Patienten spreizte der Professor mit einer stumpfen Klemme die Wundränder am Hals, und nachdem das Serom abgeflossen war, legte er einen neuen Verband an. Den Patienten nach Appendektomie untersuchte er sorgfältig mit seinen Händen, überflog das Krankenblatt und bejahte die Notwendigkeit einer operativen Revision. Die Operation an dem alten Mann sowie das Magenkarzinom seien Eingriffe mit hohem Risiko, bei denen mit technischen Problemen zu rechnen sei; deshalb wollte er diese selbst durchführen. Dr. Hutman stand schon in der geöffneten Tür, als der Professor auf Dr. Ferdinand zuging und ihn mit Handschlag begrüßte. Es kam zu einem mehrminütigen Gespräch, das von gegenseitigem Interesse getragen war. Dabei kam auch die Frage nach der Herkunft auf, und Dr. Ferdinand begann, offen über einige persönliche und berufliche Dinge zu sprechen. Dr. Hutman, der in der Tür wartete, schien diese Unterhaltung gar nicht zu gefallen, zumal der Professor lachend auch einige deutsche Worte einfließen ließ. Das Gesicht des Leutnants war wieder gerötet und von den strengen Zügen des Zornes durchzogen. Ein gewisses Maß an Eifersucht mag durchaus dabei gewesen sein. Jedoch ließ sich der Professor nicht aus der Ruhe bringen; er ging redend wie zuhörend zusammen mit Dr. Ferdinand, die Schwestern freundlich begrüßend, durch die Tür, die von Dr. Hutman wahrscheinlich versehentlich ins Schloss gestoßen wurde.
Die Doktoren gingen nun mit dem Professor zur chirurgischen Frauenstation, wo ihm einzelne Patientinnen vorgestellt wurden. Wie beim Verlassen des Männersaales begrüßte der Professor auch hier beim Eintreten freundlich die wartenden Schwestern und wechselte einige persönliche Worte mit ihnen. Die Schwestern empfingen diese besondere, weil menschliche Geste mit einem dankbaren Strahlen ihrer Augen, und das kurze Gespräch ließ den Funken der Sympathie überspringen. Dr. Hutman stand eher sprachlos daneben, weil er eine solche Geste und ihre Wirkung nicht erwartet hatte und dazu auch völlig unfähig war. Dr. Ferdinand hingegen nahm diese Situation freudig zur Kenntnis. Sie zeigte ihm die Wichtigkeit, den Menschen im Arzt nicht zu vernachlässigen oder ganz zu vergessen, und das besonders dann nicht, wenn es um den kranken Menschen und nicht bloß um die Krankheitsdiagnose, sondern auch um jene helfenden Menschen geht, die als Schwestern und Pfleger mit dem Arzt gemeinsam die Arbeit am Krankenbett verrichten. Doch er musste sich selbst eingestehen, dass er diese menschliche Wärme von einem Uniformträger im höheren Offiziersrang und nach dem ersten Wissen über die verheerenden Auswirkungen des Krieges für das einfache Volk nicht erwartet hatte.
Sie gingen in den ersten Achtbettraum, dessen verschmierte Fenster an zwei Stellen zerbrochen und nur teilweise von verschmutzten braunen Vorhängen, die zerrissen oder nur noch als schmale Fetzen herabhingen, verdeckt waren. Zwischen den Betten waren Vorhänge angebracht, die an Schienen hängend geöffnet und geschlossen werden konnten. Da sie an vielen Stellen aus den Gleitringen herausgerissen waren, bestätigten sie beim Zuziehen das Prinzip der Verwahrlosung und Armut. Als der Vorhang um das dritte Bett, der niemals eine Reinigung erfahren hatte, geöffnet wurde, standen die Ärzte und eine sie begleitende Schwester vor dem Bett einer älteren, etwa fünfzigjährigen Patientin. Ihr Gesicht des Schmerzes mit den tiefen Furchen, die das Leben mit harter Arbeit und andauernder Entbehrung hineingegraben hatte, war über die Zweifel erhaben. Zunächst kam der Brustkorb mit den hervorstehenden Rippen und den schlaffen, seitlich herabhängenden Brüsten zum Vorschein. Doch als Dr. Hutman das befleckte Leinentuch weiter fußwärts abhob, offenbarte sich die ganze Trostlosigkeit beim Anblick eines handflächengroßen Tumorgeschwürs mit aufgeworfenen Rändern an ihrem rechten Oberschenkel unterhalb der Leiste. „Konnten Sie noch gehen?“, fragte der Professor, dessen Kopf sich leicht dem zerfurchten Gesicht der Patientin entgegengebeugt hatte, während seine Augen den Tumor betrachteten. Die in Afrikaans gestellte Frage übersetzte die Schwester in die Sprache des Oshivambo. Die Augen der Patientin sahen den Professor an, und nach einer Minute des Nachdenkens wandte sie ihr Gesicht der Schwester zu und sagte, dass sie bis zuletzt, wenn auch mit einem Stock, gegangen sei. Sie erweiterte diesen Satz nach einer weiteren Minute des Nachdenkens mit dem Zusatz, dass sie für zwei Kinder und drei Enkelkinder zu sorgen habe; ihr Mann sowie die Mutter der drei Enkelkinder seien bei der Feldarbeit durch eine Mine getötet worden. Der Professor verstummte für einen Moment, Dr. Hutman verbat sich das Zeigen eines Mitgefühls, die Schwester schaute den Professor an, als wollte sie ihm sagen, dass solche Schicksale hier alltäglich seien. Dr. Ferdinand war aufgewühlt vom Anblick und der Geschichte der Patientin. Dr. Hutman konzentrierte sich seinem Horizont mehr entsprechend auf den Tumor und fragte den Professor, ob eine Ausschneidung des Tumors mit Deckung des Defektes durch ein Hauttransplantat ausreiche oder eine hohe Amputation des Beines erforderlich sei. Der Professor versank in ein längeres Nachdenken, wobei ihm die Geschichte mit den Kindern und Enkelkindern, der Anblick eines verzehrten Körpers und das Ausmaß des Tumors ein abschließendes Urteil in Bezug auf das chirurgische Verfahren schwer machte. Er las sorgfältig die Eintragungen im Krankenblatt, dann zog er die Röntgenbilder aus der Umschlagtüte und betrachtete nacheinander die Thoraxübersicht, das