Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens. Helmut Lauschke

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens - Helmut Lauschke страница 13

Автор:
Серия:
Издательство:
Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens - Helmut Lauschke

Скачать книгу

Damals, als er mit der Geige im Orchester nicht nur dieses Konzert mitspielte, war es der Ausdruck des Dankes, die Gräuel des Krieges als Kind mit seiner Familie überlebt zu haben, weshalb er nicht nur mit Fleiß an den technischen Schwierigkeiten übte, sondern mit Inbrunst daran arbeitete, jeden Ton auf dem Instrument so zu gestalten und mit dem nächsten zu verbinden, dass eine Sprache daraus wurde, die den Verstand wie auch das Herz gleichermaßen ansprechen sollte, kurz, um das zu fühlen, was gemeint war. Er hörte also Bach, denn es musste endlich geordnet werden, was in seinem Herzen alles durcheinander geworfen war. Es verlangte ihn danach, wieder klarer sehen zu können; es verlangte ihn nach Hoffnung, denn er spürte eine innere Furcht, in den Abgrund des Pessimismus zu stürzen. Das barocke Schwelgen in menschlichen Gefühlen mit der Bach’schen Präzision und Kürze schien ihm eher dazu geeignet, das Prinzip der Hoffnung wieder zu entdecken, als das Blättern und Lesen in philosophischen Weisheiten. Dr. Ferdinand schloss die Augen, als ihm klar wurde, dass er hier in Afrika ein neues Leben beginnen musste, und das von Grund auf. Es half nicht, dass er sich in Wörterbüchern verlor, er musste lernen, die Menschen und ihre Gebräuche zu verstehen; er musste zuhören lernen, um zu begreifen, wo er ist; er musste die Geschichte der Menschen hier studieren und das ohne Vorurteil, woher es auch kommen mochte. Er saß und schaute nicht auf die Uhr, er träumte mehr, als er dachte, aber die Konturen schwammen, sie ließen sich nicht zu einem System bündeln, das Klarheit ins Dasein brachte, sie schwammen uferlos umher und verschwanden, so wie sie gekommen waren, in der Grenzenlosigkeit des Unbekannten. Er wechselte den Bach mit Berlioz aus und Berlioz mit Bach und wiederholte dies bis zu jener Verlorenheit, in der ihm Tränen auf das Hemd tropften, weil er den Kampf um den Glauben aufgab und sein Schicksal wehrlos in die Hände des Schöpfers legte. „Mag er doch tun, was er will“, stammelte er vor sich hin, als er sich die nächste Zigarette anzündete. Dann stand Dr. Witthuhn verschlafen, mit leicht aufgedunsenem Gesicht, noch zugeknöpften Augen und einem schief hängenden, viel zu kurzen Bademantel vor ihm und schlug vor, Mozarts Zauberflöte aufzulegen. Er ging in die Küche und kam mit zwei geöffneten Dumpies zurück, während Dr. Ferdinand das Brandenburgische Konzert im zweiten Satz abbrach und die Platte neben den Spieler legte. Dabei kam ihm ein Schmunzeln über die Lippen, als er sich an die von Beethoven stammende Bemerkung erinnerte, dass Bach eigentlich einen größeren Namen verdient hätte. Dr. Witthuhn versank mit dem Bier in der Hand tief auf seiner zweisitzigen Couch, und seine Augen öffneten sich beim Hören der ersten Takte aus der Ouvertüre, die wie immer Funken der Lebensfreude sprühten.

      Diese Musik zeigte ihre Wirkung darin, dass Dr. Witthuhns Augen zu strahlen begannen und er sich anschickte, mit der ihm eigenen Musikalität und der Begabung eines Erinnerungsvermögens, das andere weit in den Schatten stellte, mitzusingen. „Lass uns den Tag genießen, solange es möglich ist“, sagte er lachend und trank sein Bier aus; dabei war es kurz vor Mitternacht, und ein runder Mond grüßte im Vorbeifahren durchs Fenster. Dr. Witthuhn ging wieder zur Küche, wo er sich etwas länger auf hielt, und kam mit zwei weiteren Dumpies und belegten Broten zurück. „Es ist so ruhig, als wären wir in tiefstem Frieden“, Worte, die er kauend zwischen den zerkleinerten Brot- und Wurststücken im Munde hervorbrachte, doch so, dass er sich beinahe daran verschluckte. Dr. Ferdinand fühlte, dass dieser „Frieden“ nicht mehr als eine kurze Ruhepause vor dem nächsten Sturm war. „Nimm den Mund nicht zu voll“, sagte er, „du weißt es besser als ich, welche Verheerungen der Krieg angerichtet hat. Wie lange er dauern wird, kann niemand sagen.“ „Prost!“, kam die Antwort, und schon verschüttete Dr. Witthuhn vor Schreck sein Bier auf den halb geöffneten Bademantel und die zweisitzige Couch, als Granaten mit lautem Getöse und ungeheurer Heftigkeit ganz in der Nähe mit stöhnendem Krachen einschlugen. Dabei schlugen die Türen quietschend auf und zu, bis sie schließlich von einer heftigen Stoßwelle ins Schloss gestoßen wurden. Die Wände vibrierten, die Asbestplatten knirschten in den Deckenfugen und die schief hängenden Reproduktionen an den Wänden baumelten hin und her, so dass einige noch schiefer hingen, andere dagegen fast in Galeriestellung zur Ruhe kamen. Eine Vase wurde von umgeworfenen Büchern vom Regal gestoßen und zersplitterte auf dem Boden in tausend Stücke, wobei nur noch der lang gestielte Hals auszumachen war. Der niedrige Tisch bewegte sich so stark, dass die darauf stehende Flasche umkippte und das Bier auf den Teppich vergoss, bevor sie gegen die Wand rollte und dort zerschellte. Es regnete Staub und glitzernde Asbestteilchen von der Decke, die den Raum mitsamt Inventar gleichmäßig überzogen. Insgesamt waren es sieben Granaten, von denen vier in größerer Entfernung detonierten. „Du hast Recht“, fand Dr. Witthuhn zur Sprache zurück, „dieser Frieden war wirklich von kurzer Dauer.“ Er ging in die Küche, um die letzten Dumpies zu öffnen, als er rief: „Donnerwetter, den Eisschrank hat’s auch verrückt!“ Dr. Ferdinand half ihm beim Zurücksetzen und sah, dass der Griff vom Schlag gegen den stählernen Türrahmen verbogen war. Dr. Witthuhn pustete den Staub von Platte und Plattenspieler und legte den „Don Giovanni“ auf. „Da sind wir noch einmal gut davongekommen, Prost!“ Sie tranken und hörten, was ein Genius wie Mozart zu erzählen hatte. Dr. Ferdinand ging rauchend durch den Raum, als erwartete er nachts um zwei Uhr eine Botschaft. Dann setzte er sich und schwieg. Dr. Witthuhn schlief sitzend auf der Couch, die Dumpies hatten ihn überwältigt. Der „Don Giovanni“ blieb unvollendet, der Plattenspieler wurde abgedreht. Die Kollegenfreunde zogen sich in die Schlafgemächer zurück, ohne die Lampen im Wohnzimmer auszuschalten. Eine befremdliche Stille lag über dem Dorf, und Dr. Ferdinand war sich nicht sicher, ob sie bis zum Sonnenaufgang anhalten würde. Es war der zweite Samstag in einem Winkel der Welt, der mit Hass und Leid gefüllt war. Er hörte Hundegebell, als er sich gegen drei Uhr morgens auf die Pritsche legte und zog sich das dünne Laken übers Gesicht, um sich gegen die anstürmenden Mücken zu schützen. Er war müde, doch einschlafen konnte er nicht. Das Mitternachtserlebnis und das, was er im Hospital gesehen hatte, ließen ihm keine Ruhe. Er hatte erlebt, dass der Tag Dinge bereithält, die die Normgrenzen des menschlichen Miteinanders mitsamt den Fundamenten, wie Anstand und Respekt, mit Granaten und Minen wegsprengen. Auch wenn sich die Vernunft in der Mitte zwischen den Extremen bewegen sollte, hier war Krieg und von Vernunft war keine Spur. Dr. Ferdinand rieb sich die Augen und ging seinen Gedanken nach. War den Menschen wirklich noch zu helfen? Man konnte denjenigen vielleicht helfen, die es bis zum Operationstisch geschafft hatten, aber das waren doch nur wenige von den vielen, die es eben nicht geschafft hatten und in irgendwelchen Minentrichtern verbluteten und qualvoll verendeten. Nahm er das Prinzip der Auslese in Betracht, dann waren es doch die Kinder mit ihren Müttern, waren es die wehrlosen Frauen und Männer, die am meisten litten, weil sie rettungslos und unbeachtet sich selbst überlassen blieben, weil jede Hilfe, auch wenn es nur der letzte menschliche Beistand war, zu spät kam. Das Bewusstsein verlangte danach, sich einzutrüben, da denkend eine Lösung nicht zu erreichen war. So ließ sich Dr. Ferdinand versinken und lag auf einem weiten Teppich der Träume. Der Teppich bewegte sich jedoch heftig, er rollte sich auf und rollte sich zu, drehte nach links und drehte nach rechts, stieg bis an die untere Grenze des aufgegebenen Bewusstseins und fiel aufgerollt in Tiefen zurück, die unbeschreibbar blieben. Es war beim ersten Aufrollen, als Kinder mit klaffenden Höhlen in den Gesichtern, andere mit heraushängenden Augen, andere mit abgerissenen Armen und Beinen kamen und gingen und zu hundertfacher Größe heranwuchsen. Der Betrachter selbst wurde kleiner, immer kleiner, bis er Miniaturgröße erreicht hatte, ein zerschmettertes Gesicht wie eine riesige Berghöhle durchkletterte und sich an den kantigen Vorsprüngen stieß. Aus dieser Höhle fand er jedoch niemals mehr heraus. Planetenhaft war dagegen das Auge, das er in langen Touren umwanderte und dann von Blindheit geschlagen wurde, als er den Kontinent der Iris erreichte; aus einem rot fluoreszierenden Meer kamen ihm laserstrahlgelenkte Geschosse entgegen und töteten ihn. Anders verlief die Odyssee mit den Arm- und Beinamputierten. Hier traten bizarre, spitz endende Knochenstangen aus klaffenden Stümpfen hervor, umgeben von blutverschmierten, lappig herumhängenden Haut- und Muskelfetzen. Diese Gebilde entarteten zu einem steilhängigen Vulkan mit einem gigantischen, Feuer und Lava speienden Krater. Warum er mit Seil und Pickel die Steilwand mühsam erkletterte, blieb ungeklärt. In den Gluten des tosend herabstürzenden Lavastroms verbrannte er. Der ausgelegte, wandernde Teppich, auf dem er träumte, rollte sich auf und wieder zu. Immer neue menschliche Figuren standen auf dem Plan, die sich mit schrecklichen Verletzungen derart vergrößerten, dass er klein und hilflos in den Wunden verschwand, so wie eine Nadel im Heuhaufen verschwindet. Es war mit dem höchsten Risiko verbunden, sich den einzelnen Figuren zu nähern. Er befand sich auf einer Odyssee, von der keiner lebend

Скачать книгу