Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens. Helmut Lauschke

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Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens - Helmut Lauschke

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Sie kamen aus dem Elend, der Verwahrlosung und der totalen Trostlosigkeit mit eigener Kraft nicht heraus, und mit einer weißen Hilfe konnten sie nicht rechnen, weil es die Weißen waren, die sie ins schwarze Elend gebracht hatten und dort verkommen ließen. Die, die helfen konnten und helfen sollten, stellten sich blind und ihre Ohren auf Durchzug. Dr. Ferdinand wäre bei der Beurteilung der Lage mit der Note „verheerend bis tot“ einverstanden gewesen, doch befürchtete er, dass ihn die Mitmenschen missverstehen und ihn für einen unverbesserlichen Pessimisten halten würden, was er eben nicht sein, vielmehr den Menschen als Arzt helfen wollte. Die Musik hörte sich da anders an, die den Gefühlen viel näher kam, als es die Worte schafften. Bach und Berlioz oder Beethoven, Mozart und die späteren Romantiker drückten sich da nicht so negativ aus. Sie hatten das Leben in einer „Lokasie“ aber auch nicht gesehen.

      Ferdinand holte sich die zweite Flasche „Guinness“ und zündete die vorletzte Zigarette an, während Dr. Witthuhn sich zu einem Nickerchen zurückgezogen hatte. Es war bereits spät am Abend. Der Magen knurrte, doch war kein Brot da, und eine Wurst, die Dr. Ferdinand auch gerne ohne Brot gegessen hätte, war weder im Eisschrank noch sonst wo zu finden. So übte er sich in Selbstdisziplin, es war ja nicht das erste Mal, dass er die Sprache des Magens ignorierte, auch wenn er immer frecher zurückknurrte. Die Absicht, Disziplin zu üben, musste er jedoch durch die Tatsache ins rechte Licht rücken, dass es einfach nichts zu essen gab, und dass „Guinness“ und Zigarette mit einer asketischen Disziplin gar nichts am Hut hatten. Auf dem Boden dieser Tatsachen musste er sich zurechtfinden. Es gingen ihm Gedanken durch den Kopf, die ihn auch an bessere Zeiten erinnerten. Dass der Magen dabei Widerworte gab, das störte ihn beim Versuch, sich mit der Welt zu versöhnen. Es war gegen elf Uhr nachts, als Dr. Witthuhn von seinem Nickerchen zurückkehrte und sich mit einer Flasche „Guinness“ in die Couch fallen ließ. „Das hat gut getan“, war sein ganzer Kommentar, und er stellte die Flasche auf den Tisch. „Das Bier oder das Nickerchen?“, fragte Dr. Ferdinand. „Natürlich beides“, erwiderte Dr. Witthuhn mit einem kehlig-brummigen Lachen. „Was jetzt fehlt, ist Musik.“ Er stand auf, stellte sich vor den Plattenstapel, prüfte die Titel und stapelte die Platten in umgekehrter Reihenfolge, bis er eine seiner Lieblingsplatten fand und sie auflegte. Er schaute, wie sich der Teller zu drehen begann, setzte sich auf die Couch zurück, hielt das „Guinness“ in der Hand und ließ sich von der Musik berauschen. Es war die „Carmen“ von Berlioz, das hörte Dr. Ferdinand nach den ersten Takten heraus. Beide hörten sie gern, die bezaubernde Frau mit der verführerischen Anmut ihrer Schönheit, mit ihrem spanisch-brasilianischen Temperament. Sie hätte ebenso eine Tänzerin sein können mit den immer wieder begehrten Attributen ihrer beneidenswerten, hinreißenden Weiblichkeit. Dr. Ferdinand beobachtete den Freund, dessen Augen in träumerischen Anwandlungen glänzten, dessen Lippen hin und her fuhren und nicht zur Ruhe kamen, als wollte sein Mund den Mund dieser verzaubernden Frau küssen. Darüber vergaß er selbst das Biertrinken. Ferdinand musste sich beim Anhören ihrer leidenschaftlichen und Wunder versprechenden Stimme, und dem, was sie an Worten vortrug, aber auch zugestehen, dass er eine solche Frau ebenso gern geküsst und geliebt hätte. Dr. Witthuhn fing an, von ihrer Schönheit und Leidenschaftlichkeit zu schwärmen, die alles herum vergessen ließ. „Ist sie nicht wunderbar?“, rief er zu mitternächtlicher Stunde aus. Ferdinand versuchte, die Gefühlsausbrüche des Freundes zu dämpfen, indem er sagte, dass es diese Frau mit der verführerischen Stimme einer Zauberin nur bei Berlioz gäbe. Dr. Witthuhn gab seine Hoffnung nicht auf, als er die Frage des Freundes, ob er jemals eine solche Frau getroffen oder nur gesehen hätte, mit einem schlichten „nein“ beantwortete. „Hier kannst du solche Frauen nicht finden, vielleicht in Südafrika“, meinte er, die Füße auf den Boden der visuellen Tatsachen setzend. Überhaupt war das Frauenthema für ihn höchst bedeutungsvoll. So suchte er seit Langem nach einer Frau mit jenen weiblichen Ballungsformen, die seinen hohen, ja fantastischen Ansprüchen in puncto Sexualität gerecht werden konnte. Der Mann Anfang vierzig war Vater von zwei Söhnen und einer Tochter, die mit ihrer Mutter in Südafrika lebten. Er lebte von der Familie getrennt, doch scheiden lassen wollte er sich nicht, wobei der finanzielle Aspekt stärker als erwartet eine Rolle spielte. Dr. Ferdinand lebte in Scheidung, und das Familiengericht in Deutschland machte es ihm schwer, den längst überfälligen Schritt zu tun. Es bürdete ihm trotz der hohen Verschuldung, die nachgewiesen war, Zahlungen auf, die er beim besten Willen nicht aufbringen konnte. Dabei stand fest, dass er den Schuldenberg gar nicht allein zu solcher Höhe hatte anhäufen können. Er spürte das Unrecht und sah schwarz im Land seiner Kindheit, das sich materialistisch so verwachsen hatte. Da gab es keine Alternative zum Leben mehr, ein dünner Strick hätte schon genügt. Er verließ das Land, in dem er aufgewachsen war, gelernt und gearbeitet hatte, und seine Kinder dazu. Er vermisste sie sehr. Das war sein Schmerz, der ihn quälte, und die Ungewissheit, die an ihm nagte, wie die Kinder ohne Vater weiterleben können, in welche Zukunft sie gehen würden. Die beiden Kollegenfreunde hatten familiäre Vergangenheiten, die nicht identisch, aber ähnlich gelagert waren. Darüber hinaus verband sie nicht nur der Beruf des Arztes, sondern mehr noch das gemeinsame Interesse für die Musik und die bildenden Künste, für die sie gewisse Begabungen von Hause aus mitbrachten. Beide hätten Künstler werden können, wenn sie sich zur rechten Zeit für die Musik oder Kunst entschieden hätten. Ob sie die Butter aufs Brot damit verdient hätten, blieb allerdings eine offene Frage. Tatsache war ihre nicht erloschene Begeisterung für Musik, Skulptur und Malerei und ihr beachtliches Wissen über Kunst und Künstler. So war es nicht verwunderlich, wenn darüber lebhaft, fast leidenschaftlich bis tief in die Nacht und in die letzten Details diskutiert wurde. Auch das gab es im letzten Winkel der Welt, wo die Menschen um Freiheit und Würde rangen und unsägliche Opfer hinnahmen, wo um die Grundrechte des Menschen mit Waffen gekämpft wurde, wo es Folter und Misshandlung gab, wo die Sprache der Kunst fehl am Platz und die Vernunft gestorben war. Ferdinand erinnerte sich gut daran, dass ihm vor vielen Jahren ein emigrierter russischer Schriftsteller zwei Weisheiten anvertraute, nämlich dass der Krieg mit Waffen und nicht mit den Mitteln der Kunst ausgetragen wird und dass die Kunst vor dem Krieg von der nach dem Krieg deshalb verschieden ist, weil der Krieg die Kontinuität der Kunst unterbricht, eine Bruchlinie zieht, die bei näherer Betrachtung der Todesstreifen mit den vielen Toten ist. Nach dem Krieg ist die Kunst ganz anders, weil da die Toten sprechen, denen der Krieg das Leben genommen hat. Es kommt der große Umbruch in die Kunst, weil es durch die Toten auch ums Leid und Elend der Überlebenden geht. Diese zwei Weisheiten sollte Ferdinand nicht vergessen. Er sah die Bruchlinie mit dem Todesstreifen, hatte die Granateneinschläge frisch im Ohr. Da war für Kunst und Künstler kein Raum, wohl aber für Ärzte, die an den Verletzten zu arbeiten hatten.

      Für Dr. Ferdinand begann die dritte Woche. Sie standen in der Küche und tranken Kaffee. Der zu kurz gekommene Schlaf und der mitternächtliche Bierkonsum hatten sich mit den Zeichen der leichten Verstörung in ihre Gesichter geschrieben. Sie hatten Mühe, die Oberlider so weit zu heben, dass die Augen ohne ein Sandgefühl in die Lage kamen, ihre Funktion wahrzunehmen. Die geröteten Skleren und die verbliebene, dezente Bierfahne, die das Gesicht von Dr. Witthuhn umwehte, deuteten auf jene bekannte Kombination hin, für die der Schlafmangel nur teilweise verantwortlich zu machen war. Um dem Wachwerden nachzuhelfen, goss er sich Kaffee nach, wobei er seine Tasse bis oben und die Tasse von Dr. Ferdinand nur zur Hälfte füllte, weil nicht mehr da war. Sie leerten die Tassen im Eiltempo, da der Sprecher im Radio die Zeit in Afrikaans mit „twintig minute na sewe uur“ ansagte. Kurze Zeit später waren sie im Auto unterwegs. Sie passierten den Kontrollpunkt am Ortsausgang, Dr. Witthuhn hielt an, hielt den Ausweis in der Hand und grüßte. Der Wachhabende sagte das „Guten Morgen“ in der Sprache der Buren und hob die Schranke hoch. Sie fuhren die breite und durchlöcherte Sandstraße zum Hospital, bogen vor der Einfahrt nach rechts, Dr. Witthuhn grüßte in Afrikaans und mit kratzender Stimme den schäbig gekleideten Wärter, der die verbogenen Gittertore aufschob und dabei freundlich zurückgrüßte. Wie üblich stellte Dr. Witthuhn den Wagen vor der Längswand der Kantine ab. Beide stiegen in der Erwartung aus, dass es eine Nachricht aus Pretoria gäbe, und mit der Zuversicht, die täglichen Probleme im Hospital dann besser in den Griff zu bekommen. Dr. Ferdinand hatte sich einfach noch nicht an den Anblick der vielen Menschen gewöhnt, die um diese Zeit zum Hospital strömten und den Vorplatz füllten. Nie hatte er vor einem Hospital so viele Mütter auf einem offenen Platz gesehen, die stehend, gehend oder auf dem Boden sitzend ihre Brüste an die Münder der Säuglinge führten.

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