Seemannsschicksale 1 – Begegnungen im Seemannsheim. Jürgen Ruszkowski
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Die Verhältnisse in der deutschen Schifffahrt ändern sich im Laufe der Jahre gewaltig. Anfang bis Mitte der 1970er Jahre erobert der Container und in den 80er Jahren die Elektronik die Schifffahrt. Die Gewerkschaften erstreiken nie geahnte Errungenschaften für die Seeleute. Wurden diese „Fortschritte“ für die Seeleute bald zum Fluch? Ölkrisen, Flaggenprotektionismus und Dollarturbulenzen bringen die maritime Wirtschaft aus dem Tritt und die folgenden Ausflaggungen die alte europäische Seefahrtromantik ins Rutschen. Aus den Schmierern werden eines Tages Motorenwärter, aus den Ingenieuren Technische Offiziere. Der Mehrzweckeinsatz verschmilzt die historischen Gegensätze von Deck und Maschine. Matrosen und Motorenwärter gibt es nicht mehr, sondern Schiffsmechaniker. Bootsmänner und Lagerhalter werden zu Schiffsbetriebsmeistern. Aber sie alle sind auf die Dauer „zu teuer“. Ab 1972 beginnt die Zahl der deutschen Seeleute rapide zu schrumpfen. Ende der 90er Jahre gibt es je nach Zählart noch etwa 10.000 bis 16.000 deutsche Seeleute. Vor dem ersten Weltkrieg, zur Blütezeit der Seemannsmission unter unserem marinebegeisterten Kaiser Wilhelm II, hatten wir in Deutschland sogar einmal über 100.000 Seeleute. Daneben fuhren noch Zigtausende unter fremden Flaggen. Die alte Segelschiffszeit oder die Zeit der Kohlendampfer hatte zwar auch ihre Reize. Das Leben an Bord war aber sehr hart und entbehrungsreich.
Die Containerisierung, die teilweise durch Streiks erzwungenen starken Heuererhöhungen und der Computer setzen Zehntausende deutsche Seeleute frei. Die Schiffe werden nach amerikanischem Vorbild ausgeflaggt. Lange, bevor das Wort Globalisierung in aller Munde ist, macht die Schifffahrt vor, was zwei Jahrzehnte später im Fernkraftverkehr und auf den deutschen Baustellen abgeschaut wird. Am Heck ehemals deutscher Schiffe hängt nicht mehr schwarz-rot-gold, sondern eine Flagge von Panama, Liberia oder Zypern. Gefragt ist jetzt der Decksmann, der gleichzeitig kochen kann und nicht mehr nach dem deutschen Heuertarif bezahlt werden muss. Ein zweites Schiffsregister wird geschaffen. Auf den dort registrierten Schiffen erhalten nur die Führungskräfte Heuern nach deutschem Tarif, alle übrigen Heimatlandheuern. Die ersten Billig-Seeleute werden schon Ende der 70er Jahre von deutschen Nautikern auf den Kiribati-Inseln im Pazifik gedrillt und eingeflogen. Die Ausflaggungen gehen weiter. Filipinos und Burmesen verdrängen immer mehr deutsche Seeleute. Nach der politischen Wende im Ostblock folgen Polen, Balten und Russen, die noch billiger sind als die Kiribatis. Wer sich als deutscher Seemann noch behaupten kann, muss fachlich hoch qualifiziert und zu großen Opfern an Anpassung, Stress und Vereinsamung an Bord bereit sein. Nur aus Edelholz geschnitzte Charaktere halten das noch durch. Hinzu kommt eine gehörige Portion Glück.
Anfang der 90er Jahre erleben wir im Seemannsheim zum ersten Mal freibleibende Betten. Um den Seeleuten das Haus durch Stärkung der Kasse erhalten zu können, nehme ich 1996 die ersten Touristen zu erhöhten Mietpreisen auf.
Marc braucht immer heiße Action
Marc Schlesinger hat ein offenes, freundliches, kontaktfreudiges und mitteilsames Wesen. Er wurde am 6.1.1965 in Berlin geboren. Bis zu seinem 14. Lebensjahr wuchs er ohne Geschwister bei seinen Eltern in Berlin auf. Am Schulbesuch hatte er nicht viel Freude. Die Fächer Religion und Sport waren ihm die liebsten, weil die Lehrer da nicht so viel forderten, aber für Mathe hatte er gar nichts übrig. So kam es dann, dass er immer häufiger die Schule schwänzte. Darum brachte man ihn mit 14 Jahren im Christlichen Jugenddorfzentrum Wolfsburg unter. „Von dort aus bin ich fast jeden Monat einmal weggelaufen und über die Interzonenautobahn zu meiner Oma nach Berlin getrampt. Die hat mich dann jedes Mal mit Schokolade, Geld und einer Stange Zigaretten versorgt. Ich hatte immer Verlangen nach abenteuerlichen Erlebnissen und brauchte viel „action“. Was ich nie kannte, war Heimweh.“ Als er 16 war, ging er ohne geregelten Schulabschluss aus der 9. Klasse ab.
Am 28. Mai 1983 fing er bei der Reederei Peter Döhle in Hamburg auf dem Kümo „MARIANNA“ als Deckshelfer an. Nach knapp drei Monaten riet man ihm, abzumustern und erst einmal einen Sicherheitslehrgang zu machen, den er dann bei der ÖTV-Schifffahrtsschule in Bremen absolvierte.
1983 unternahm er noch eine dreiwöchige Kreuzfahrtreise als Aufklarer bei der HADAG auf der „ASTOR“, einmal nach Spitzbergen und zurück. Er musste Räume ausfegen, Spiegel wienern und Toiletten putzen. „Eines Abends warf ich mich in Schale und Lackschuhe und begab mich in eine Tanzbar im Passagierbereich. Das war uns Besatzungsmitgliedern strengstens verboten. Da habe ich so richtig einen los gemacht, mich mit Passagieren unterhalten, getanzt und einige Drinks genommen. Ich wusste jedoch nicht, dass die Passagiere dem Bedienungssteward wegen der Abrechnung der Zeche ihre Kabinennummer nennen mussten. Als der mich nach meiner Kabine fragte und ich meine Nummer nannte, kam natürlich raus, dass ich Mitglied der Besatzung war. So war die erste Reise auf der ASTOR auch meine letzte.“
Der eigentliche Antrieb, der ihn zur Seefahrt brachte, war eine Wette, die er mit 12 Jahren mit seinem Vater schloss: „Paps, ich bin der erste aus der Familie, der mal nach Übersee kommt!“ Als er 19 war, sagte er stolz zu seinem Vater: „Schau mal, was ich hier habe!“ - und präsentierte ihm ein Flugticket der SAS von Hamburg über Kopenhagen nach New-York. „Ich bin eine Kämpfernatur. Schließlich bin ich Steinbock! Was ich mir einmal in den Kopf gesetzt habe, das führe ich auch durch! Wenn ich so höre, wie die Landratten mit ihren Auslandsreisen protzen: Polen, Dänemark. Für mich fängt das Ausland erst in 2 bis 3.000 Meilen Entfernung an!“
Er hatte einen Job als Decksmann auf der „PROJECT EUROPA“ bei der Reederei Project Carriers gefunden. So flog er also nach Amerika. Im Flugzeug traf er einen anderen jungen Mann, der gleich ihm auf der PROJECT EUROPA einsteigen sollte. Sie wurden unzertrennliche Freunde. „Der brachte mir an Bord alle Handgriffe und Kniffe seemännischer Praxis bei. Im leeren Laderaum fuhren wir heiße Rallyes mit den Gabelstaplern. Leider ist der schon sehr jung unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen.“ Der erste Flug war noch etwas Besonderes. „Heute fliege ich gar nicht mehr gerne: Stundenlang so eingepfercht sitzen und vor dem Landen über New-York noch etliche Warteschleifen mit Ohrensausen und Nasenbluten, das ist kein Spaß!“
Mit der PROJECT EUROPA erlebte er eines seiner größten Abenteuer: In New Orleans segelte er achtern raus. Das Schiff lag auf Außenreede und hatte crew-change. Marc standen sechs Stunden für einen Landgang zur Verfügung. Der Alte hatte ihn schon gewarnt, als er sich 200 $ „Schuss“