Der Springer. Helmut H. Schulz

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      Katjas Hände sind trotz der Hitze kalt. Die Gnievottas kennen sich seit zwanzig Jahren, etwas weniger. Er war ihr Erster und ist vielleicht ihr Einziger geblieben, vielleicht auch nicht. In zwanzig Jahren passiert viel, weiß Gnievotta. Es war bei Bek, eine elende Zeit, als sie zu ihm kam, jede Nacht, bis die Eltern sie rausschmissen. Das ist nie wieder in Ordnung gebracht worden. Katjas Eltern starben kurz hintereinander, vor acht Jahren ungefähr. Gnievotta wohnte in einem Verschlag über dem Bootsschuppen und reparierte Motoren, Sachs, König und andere Systeme. Nowacki holte ihn da raus. Oder war es Kosch? Jetzt also will Katja zur Abendschule.

      Sie fragt, ob er glaube, es lohne noch.

      «Warum soll es nicht lohnen», sagt er.

      «Weil ich nicht mehr jung bin», sagt sie.

      «Probier es», sagt Gnievotta.

      Dann telefoniert er mit Nowacki, hört dessen sichere, etwas leise Stimme. Nowacki sagt, bis jetzt wäre es nirgends zu einem durchgreifenden Wetterwechsel gekommen. Auch für die nächsten Tage erwarte niemand eine Änderung. Im Norden habe das Unwetter viel Schaden angerichtet, es bewege sich langsam in südliche Richtung.

      Gnievotta erwidert, dass ihn Gewitter weniger schrecken als veraltete Maschinen. Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Technologie wäre nicht seine Sache, sagt Nowacki. Geologie, Mineralogie, damit sei er befasst. Das reiche ihm vollauf. Nowacki am Schreibtisch, die Armprothese aufgestützt, den Telefonhörer in die Schulter geklemmt.

      «Wie sieht es denn sonst aus?», fragt Nowacki.

      «Nichts Besonderes»" sagt Gnievotta.

      Nowacki rät, gleich wieder abzufahren. Von allem anderen mal abgesehen, müsse eben noch immer mit dem Unwetter gerechnet werden.

      Gnievotta ist verstimmt über Nowackis Beharrlichkeit. Er glaubt einen Anspruch auf zwei ruhige Tage zu haben, wenn er auch mit den Tagen nichts anzufangen weiß. Er werde am Sonntagnachmittag fahren, sagt er, ein Vorschlag zur Güte.

      «Wenn du heute noch fährst», sagt Nowacki, «dann müssten wir uns gleich nach dem Mittag sehen.»

      «Ich weiß nicht», sagt Gnievotta mürrisch, «kommt erst mal her. Sagen wir, gegen vierzehn Uhr?»,

      «Das ist entschieden», sagt Nowacki und legt den Hörer auf. Nutzlos wird der Vormittag vertan, Gnievotta sitzt in der Küche, sieht zu, wie Katja Gemüse putzt, Fleisch zum Braten vorbereitet, hört ihr zu. Dann wird ihm ihr Gerede lästig. Er schützt eine Arbeit vor und setzt sich an den Fernseher. Die könnten vormittags, wenn die Schichtarbeiter zu Hause sind, etwas mehr Fußball bringen, findet er. Das tun sie natürlich nicht, ist ja auch Sommer, Pause im Fußball. Gnievotta nimmt sich die alten Fußballzeitungen vor, Sympathie für die Berliner Klubs konnte er nie aufbringen, die enttäuschen zu oft. Unbeständig sind sie.

      Beim Tischdecken fragt Katja, ob er das arbeiten nenne?

      Dann essen sie und Gnievotta wartet auf Nowacki. Ani und Nowacki passen zueinander. Als Kinder lernten sie sich kennen und verloren sich aus den Augen. Ein paar Jahre haben sie sich verschenkt, die Jugend. Dann fanden sie sich wieder. Ani hatte ein paar Illusionen und Nowacki einen Arm verloren. Gnievotta beobachtet Nowacki, der auf die Spree hinuntersieht. Unbedingt muss er sich jenes Apriltages erinnern, der in Gnievotta noch immer verschwommen lebendig ist, aber als er den Schwager fragt, ob er jetzt zurückdenke, antwortet Nowacki reserviert: «Nein. Wozu?»,

      Es ist nichts zu machen mit einem Mann, dem Gedanken an Vergangenes lästig sind. Vergangenes, das heißt hier auch, an einen Mann mit zwei gesunden Armen denken.

      Sie trinken irgendein fades Zeug, weil Nowacki selten Alkohol trinkt. Trotzdem ist es nicht langweilig. Mit Nowacki kann es nie langweilig werden. Er hockt im Sessel, die langen Beine weggestreckt, und trainiert die bio-elektrische Prothese, ohne sich bei der Entwicklung eines Gedankens stören zu lassen. Er spricht über Theateraufführungen, Konzerte; die er gehört, über wissenschaftliche Entdeckungen, Politik. Sein blasses Gesicht wird von dem dunklen Kinnbart; beherrscht, die Augen haben die Farbe braunen Waldbodens. Das Haar, glatt, seitlich gescheitelt, ist schwarz. Alle Sachen, die Nowacki trägt, wirken immer, als seien sie gerade gekauft. Selbst der Schutzhelm, den er draußen wie alle aufsetzt, scheint eben aus der Presse gekommen zu sein.

      «Warst du mal bei unserer Mutter?», fragt Ani.

      «Nein», sagt Gnievotta «sie will anbauen, schreibt sie.»

      «Red es ihr aus», sagt Ani, «auf dich hört sie manchmal.»

      Ani ist vierzig, aber sie wirkt jünger als Katja. Ihr straff zurückgekämmtes Haar endet als baumelnder Rossschwanz. Ihre Bewegungen haben was von der behänden Leichtigkeit junger Mädchen. Außer zwei kleinen Perlen in den Ohrläppchen trägt sie keinen Schmuck.

      «Es ist doch nur ein Sprung bis Altefähr», sagt sie.

      «Vielleicht mal in der Woche», sagt Gnievotta. Er müsse heute noch zurück. Den Blick, den er von Katja auffängt, sieht auch Nowacki. Es ist eine seiner sympathischen Eigenschaften, Unausgesprochenes zu verstehen. Er sagt, vielleicht gebe es bald ein paar Ruhetage. Katja nickt und gibt sich zufrieden. Es ist ein alter Streitpunkt. Trennung bedeutet für Katja Verzicht.

      Dann spricht Gnievotta noch mal ausführlich von der Arbeit. Mit ganz leeren Händen will er nicht zurückfahren. Er erläutert die Schwierigkeiten und sagt, es sei ein Unterschied, ob man am Schreibtisch sitze und Pläne mache oder ob man draußen liege und solch schönen Plänen Gestalt geben müsse, mit Ausrüstungen, die den Anforderungen nicht mehr genügen. Die Geologen, habe er den Eindruck, wüssten besser in den Dolomiten Bescheid als hier.

      Der Eindruck sei falsch, die Geologen wüssten über Erdschichten recht gut Bescheid, antwortet Nowacki trocken, und deshalb werde überhaupt der ganze kostspielige Aufwand getrieben, nämlich um Bescheid zu wissen. Die großen Entdeckungen stünden noch aus, aber sie würden gemacht werden, heute oder in zehn Jahren. Alle bedeutenden Öllagerstätten der Welt wären in den letzten vierzig Jahren gefunden worden.

      Gnievotta schüttelt den Kopf. Es ist seine elfte Tiefbohrung, gefunden wurde nichts. Nowackis Glauben an ein Wunder kann er nicht teilen, aber der Stolz auf einen sauberen Kern aus vier- oder fünftausend Metern Tiefe, mit dem der Geologe was anfangen kann, ist ihm nicht fremd.

      Was die Frage der Ausrüstungen beträfe, er, Nowacki, sehe es so: Neue Anlagen seien mit einem Schlage natürlich nicht zu beschaffen, aber es gebe genügend Leute, die nicht auf den Kopf gefallen wären. Koschinski zum Beispiel, der wäre mal ein großer Erfinder gewesen, und Lawretzki, auch der, soweit Nowacki sich der beiden erinnere. Man müsse aus den Anlagen eben herausholen, was irgend möglich, wahrscheinlich sei viel mehr drin, als Gnievotta annehme. Betriebsblindheit wäre nur ein anderes Wort für moralischen Verschleiß.

      Sie lassen das Thema fallen, es ist unergiebig. Am Abend fährt Gnievotta ab.

      Das Gewittertief bewegte sich nur langsam in Nordsüdrichtung. Möglicherweise löste es sich auf, und ein Hoch entstand. Jedenfalls brachte der Sonntag zunehmend Schwüle in die Stadt, die Sonne schien am Himmel zu zerfließen. So gut wie keinen Schatten warf ihr Licht.

      Der junge Bodo ordnete Schulsachen. Zu dem Gespräch mit Gnievotta war es nicht gekommen, abgesehen von der Rangelei gestern früh. Nach dem Essen trieb sich Bodo in den überhitzten Straßen herum, ungestört beobachtend. Die Stadt war voll von Gnievottas, schien dem jungen Bodo, dauernd begegnete man ihnen. Sie glichen einander, in allen denkbaren Verkleidungen traten sie auf, jung oder alt, der Ausdruck

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