Jamil - Zerrissene Seele. Farina de Waard
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Читать онлайн книгу Jamil - Zerrissene Seele - Farina de Waard страница 22
Jamil lächelte müde über ihre Antwort, er hatte so etwas schon erwartet. Das Mädchen traute ihm noch immer nicht. Trauer überkam ihn, dass sogar seine einzige Helferin davon ausging, dass er ein grässlicher Dämon war. Seine Familie hatte ihn verstoßen und sie half ihm vielleicht nur, weil ihre Leute es ihr befohlen hatten. Damit er bald verschwinden würde. Warum brachte niemand den Mut auf, sein Leiden zu beenden?
Als sie schwieg, erkannte er, dass sie eine Erwiderung erwartete. Er versuchte, sie mit seinen Augen zu fokussieren, aber es fiel ihm schwerer, als er erwartet hatte.
»Aber bist du … nicht schon meine Gehilfin? Du rettest mir … vielleicht gerade das Leben.«
»Ich würde das hier nicht als retten bezeichnen.«
»Also wäre ich besser dran gewesen, von den Kojoten bei lebendem Leib gefressen zu werden?«, fragte er und ein Anflug von Wut klang in seiner Stimme mit, der ihm sofort wieder Energie verlieh.
»Nein, so habe ich das nicht gemeint. Ich will nur sagen, dass du auch ohne mich schon erstaunlich viel geleistet hast. Du bist stärker als jeder Mensch, den ich kenne. Ich hatte nicht gedacht, dass du es überhaupt bis zum Baum schaffst oder die Nacht überlebst … Ich weiß, der Baum hat dir geholfen, aber was du in dieser Nacht geleistet hast, war allein dein Werk.«
»Ich erinnere mich kaum … Da waren die Kojoten … und du … und dann die Wurzeln des Baums in meinem Rücken … und sein Leuchten …«
Das Mädchen erwiderte nichts darauf und sie musterten sich einen Moment lang schweigend.
»Ha–hast … hattest … wie war dein Name, Dämon?«
Erneut lachte er trocken. »Ich heiße Jamil.«
Sie nahm es mit einem Nicken hin. Der Name klang genau so, wie seine Leute ihn durcheinander gerufen hatten. Er erinnerte sich also tatsächlich an etwas aus seinem alten Leben.
»Wie alt bist du?«, erwiderte er.
»Achtzehn Sommer.«
»Ich … glaube, ich bin dreiundzwanzig.« Er runzelte die Stirn und schien verlegen. »Ich bin mir nicht mal sicher …«
»Das liegt am Fieber. Ruh dich aus, deine Knochen werden schneller heilen, wenn du keine Entzündung mehr im Körper hast.«
Er nickte schwach und schloss die Augen. Asha nahm wieder ihr Messer zur Hand und schlitzte seine Hosenbeine auf, um die Haut freizulegen. Sie schlug den Stoff zurück, rieb seine Haut mit der Salbe ein und band stabile Hölzer zu beiden Seiten seiner Beine. Erneut ächzte er schmerzerfüllt auf, dann entspannte sich sein Körper ein wenig.
»Zum Glück ist das Gras um dich so hoch gewachsen, so wird hoffentlich niemand die Verbände entdecken«, meinte sie und warf einen Blick über die Wiese. Die Wolken am Himmel rissen wieder einmal auf und ließen etwas dünnes Mondlicht auf die Umgebung sickern.
»Ich fühle meine Zehen nicht …«, murmelte er schlaftrunken. Die Schmerzen und Gerüche der Kräuter hüllten ihn ein und machten seine Zunge schwer.
Hatte sie etwas falsch gemacht, als sie seine Beine streckte? Stirnrunzelnd rutschte sie wieder neben seine Füße und versuchte ihm die ledernen Schuhe auszuziehen. Aber das Leder war durch das Meerwasser so verhärtet und steif geworden, dass sie seine Füße freischneiden musste.
Als sie seine Zehen sah, dachte Asha zuerst, sie wären abgestorben. Dann erkannte sie, dass sie nicht nur bläulich waren, sondern auch schwach leuchteten. Sie rieb seine Füße, bis sie nicht mehr kühl waren und etwas normale Farbe in sie zurückkehrte.
Dennoch lief ihr ein Schauer den Rücken hinab. Was war das für eine seltsame Verwandlung?
Als Ashas Blick über seinen Körper wanderte, blieb er an seinen Händen hängen. Sie erinnerte sich an den Moment, als er ihr das Messer abgenommen hatte. Da schienen seine Hände von innen wie erlöschende Glut zu flackern … jetzt schimmerten sie ebenfalls so blau wie seine Füße.
Er ächzte und ballte kurz die Hand zur Faust, murmelte dann aber nur unverständliches Zeug. Sie öffnete eines seiner Lider, aber seine Augen starrten ins Nichts.
Das Fieber wird ihn töten!, dachte sie und war überrascht, wie sehr dieser Gedanke sie mit Trauer erfüllte. Hatte er sie schon so in seinen Bann gezogen? Oder war es natürliches Mitleid, das sie für ihn empfand? Sie hatte als Kind oft Ärger bekommen, weil sie verletzte Tiere nicht töten wollte. Undenkbar für eine Tochter der Nacht.
Ohne es bewusst zu wollen, strich sie ihm über die schmutzige, eingefallene Wange. Wie unglaublich schnell er so mager geworden war, kaum noch zu vergleichen mit dem gutaussehenden jungen Mann, den sie auf der Klippe gesehen hatte, bevor die Pfeile ihn in die Tiefe schickten.
Warum hat man ihn so töten wollen? Waren die Pfeile vielleicht verflucht und deshalb wurde er zum Dämon?
Sie kannte die Antworten nicht, nahm sich aber vor, im Wald nach Spuren zu suchen. Schließlich öffnete sie das große Bündel, das neben ihr im Schatten lag, und breitete die frisch geflochtene Decke aus langen Grashalmen über seinem Körper aus.
»Wenn er diese Nacht überlebt, ist das ein Wunder, selbst unter unserem Baum«, meinte Asha murmelnd und ließ sich neben ihm ins Gras sinken. Sie formte Zeichen mit den Händen, wie sie es bei den Schamanen beobachtet hatte, um den Segen des Hara–Baumes auf Jamil zu lenken.
So hielt sie Wache, legte immer wieder ein kühles, feuchtes Tuch auf seine Stirn und lauschte dem undeutlichen Gemurmel seiner Fieberträume, bis sie in der Morgendämmerung davonschlich, um im Wald zu jagen.
Sie verharrte gegen den Wind in einem Dickicht, doch ihr Warten blieb erfolglos und kein Hirsch zeigte sich auf der Lichtung.
Wenig später brach sie auf und betrat ihr Dorf, als die Sonne gerade am Horizont ihre ersten Strahlen ausschickte. Asha bereitete sich darauf vor, ihren Eltern und den Schamanen wieder einmal nur die halbe Wahrheit über den verfluchten Mann zu berichten.
Auf einmal war sie froh, dass ihr Verhalten so vollkommen absurd und undenkbar war. Niemandem würde im Traum einfallen, einem dämonischen Untoten zu helfen. Warum also war es ihr plötzlich so wichtig, dass der Fremde überleben sollte?
Diese Frage ließ sie nicht los, bescherte ihr Bauchschmerzen und machte sie für den Rest des Vormittags schweigsam, bis ihre Mutter ihr vorschlug, sich auszuruhen. Also legte sie sich eine Weile schlafen und träumte von seinen Augen, die so türkis waren wie das Meer an einem strahlenden Sommertag.
In der darauffolgenden Nacht kehrte Ashanee ohne große Hoffnung zu dem armen Dämon zurück. Sie hatte sich den halben Tag den Kopf darüber zerbrochen, ob sie nicht gerade etwas schrecklich Falsches tat. Aber so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nichts Böses in den Worten des Fremden erkennen. Und auch wenn sie sich einredete, er könnte sie täuschen, blieb die ständige Sorge um seinen Zustand.
Sie hatte versucht, nicht mehr an ihn zu denken, nicht zurückzukehren, nachdem in ihrem Dorf heftig über ihn diskutiert wurde, aber sie war so neugierig, was die Fremden anging – und wenn er lebte, konnte er ihr so vieles erzählen.