Tagebuch eines österreichischen Mädchens um 1901 - Band 129 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. Rita anonym um 1900
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27. Oktober: Gott, es ist alles wie verhext. Gestern hab ich ungenügend in Geschichte bekommen und heute habe ich in der Rechenschularbeit gar keine Rechnung richtig. Und wir haben gestern noch solange geübt. Ich sag vorläufig nichts zuhause. Aber wegen der Turnstunde neulich, habe ich doch Angst. Wenn mir nur die Mama morgen das Geld mitgibt und nicht selber geht, denn dann erfährt sie es sicher.
28. Oktober: Heute war die Frau Direktor in der französischen Stunde da und hat mich sehr gelobt. Sie sagt, im Französischen könnte ich in der dritten sein und dann fragt sie mich, ob ich in den anderen Gegenständen auch so gut beschlagen sei. Ich habe nicht sagen wollen, ja und auch nicht nein, und da haben alle Kinder gesagt, ja, sie kann überall alles. Und da hat mir die Frau Direktor auf die Schulter geklopft und hat gesagt: Das hör ich gern. Und wie sie draußen war, habe ich grässlich geweint und die Madame Arnau hat gefragt: Ja was hast du denn? und die Kinder haben gesagt: In der Rechenschularbeit hat sie ungenügend und sie kann doch so gut rechnen. Und da die Madame hat gesagt: „Du wirst dir das ungenügend schon wieder verbessern“.
30. Oktober: Heute habe ich einen furchtbaren Verdruss gehabt mit dem Fräulein Vischer aus Geschichte. Gestern wie ich mit der Mama in die Elektrische einsteige, sitzt die V. drin. Ich schau weg, damit die Mama sie nicht sieht und sie ihr nicht am Ende sagt, dass ich die dummen Sagen nicht können habe. Und heute wie sie hereinkommt, sagte sie: Lainer, kennst du die Schulordnung? Ich weiß gleich was sie meint und sage: „Ich habe Fräulein gegrüßt in der Elektrischen, aber Fräulein haben gerad nicht hergeschaut“. „Das ist sehr schön, ein Vergehen durch eine Lüge beschönigen zu wollen. Setz dich!“ Ich habe mich sehr geniert, weil mich alle Kinder angesehen haben. Und um 11 Uhr hat die Franke gesagt zu mir: Mach dir nichts draus, sie hat dich auf den Zug, und da wird sie immer was finden. Und sie muss es der Frau Doktor M. gesagt haben, weil sie in der Deutschstunde als freie Redeübung vom Grüßen aufgegeben hat. Und alle Kinder schauten mich wieder an. Sonst hat sie nichts gesagt. Sie ist überhaupt ein Engel, meine süße E. M., sie heißt nämlich Elisabeth; aber Namenstag feiert sie keinen, weil sie protestantisch ist; das ist riesig schade wegen dem 19. November.
31. Oktober: Ich habe doch ein Glück. Mit der Turnstunde ist nichts herausgekommen, obwohl die Mama selbst dort war. Und mündlich habe ich heute im Rechnen eins bekommen. Das Fräulein Steiner ist auch sehr lieb und hat gesagt: Ja L. was war denn das bei der Schularbeit, du rechnest ja sonst so gut? Ich habe mir nicht anders helfen können und hab gesagt: Ich hatte neulich solche Kopfschmerzen. Da lacht die Franke beinahe heraus, das war nicht schön von ihr; ich glaube überhaupt, man darf ihr nicht ganz vertrauen: sie ist vielleicht etwas falsch. Nach der Stunde hat sie zwar gesagt, sie hat gelacht, weil „Kopfschmerzen“ ganz etwas anderes bedeutet.
1. November: Heute fangen wir den Schreibtischteppich zu Weihnachten für den Papa an. Natürlich hat sich die Inspee die rechte Hälfte genommen, weil die leichter geht und ich muss die linke Hälfte machen, wo man immer den ganzen Binkel in der Hand hat. Für die Mama mach ich eine gestickte Buchtasche aus Leder mit Seide und Malerei; die Malerei darf ich in der Schule machen beim Fräulein H., die hab ich auch sehr gern. Aber am liebsten habe ich die Frau Doktor M. Ich lade die Franke nicht ein, weil sie gestern so gelacht hat und die Mama will auch nicht, dass ganz fremde Mädeln kommen.
2. November: Ich weiß noch immer nicht alles. Die Hella weiß viel mehr. Wir haben gesagt, wir prüfen uns in Naturgeschichte und sind hinüber in den Salon und dort hat sie mir noch sehr viel anvertraut. Und dann ist die Mali, unser neues Dienstmädel hinein gekommen und die hat uns etwas Grässliches gesagt. Die Resi ist nämlich im Spital, weil sie krank ist. Nämlich alle Juden müssen als ganz Kleiner eine furchtbar gefährliche Operation durchmachen; es tut schrecklich weh und davon sind sie so grausam. Sie müssen das tun, damit sie mehr Kinder bekommen; aber nur die kleinen Buben, die Mäderln nicht. Das ist grässlich und ich möchte keinen Juden heiraten. Wir haben die Mali auch gefragt, ob es wahr ist, dass das so schrecklich weh tut und da hat sie gelacht und gesagt: Es wird nicht gar so arg sein, sonst täten's nicht alle. Und die Hella hat gefragt: Haben Sie es denn auch schon getan, Sie haben ja gar keinen Mann? Und da hat sie gesagt: Gehn's Fräulein, so was redt man nicht, das ist nicht schön. Und wir haben uns sehr geniert und haben sie gebeten, dass sie nichts der Mama sagt. Und sie hat es uns geschworen.
5. November: Mit dem dummen Gürtel ist alles herausgekommen. Vorgestern räum ich meinen Kasten aus und will Ordnung machen, da kommt die Mali die Betten herrichten und sieht den Gürtel mit den Fransen. „Jö, sagt sie, der ist schön!“ Sie können ihn schon haben, ich trag ihn so nicht mehr, sag ich. Und gestern zu Mittag schaut die Mama auf einmal die Mali an und ich spür', dass ich ganz rot werde. Und nach dem Essen sagt die Mama, du Gretel, hast du der Mali den Gürtel geschenkt? Ja, sag ich, sie hat mich gebeten. Da kommt sie grad herein das Wasser hinaustragen und sagt: „Nein, ich hab nicht bitt drum, die Fräuln Grete hat mir 'n von selber geben.“ Und ich weiß nicht wie das war, ich war schon in unserem Zimmer, da kommt die Mama und sagt: Eine rechte Freude erlebt man an seinen Kindern. Die Mali hat mir gesagt, was für schöne Sachen du und die Hella redet. Ich renn gleich in die Küche und sag zur Mali: Wie können Sie einen solchen Tratsch machen? Sie haben sich in unser Gespräch gemischt. Das ist eine Gemeinheit und zwar eine kolossale. Am Abend beschwert sie sich beim Papa über mich und der Papa schimpft gräulich und sagt: Nette Rangen hab ich, das muss man sagen. Der Verkehr mit der Hella wird eingeschränkt, verstanden?
6. November: Das ist das Schönste, jetzt bin ich eine dumme Gans. Wie ich aber der Hella einen Stoß gegeben habe, sie soll vor der Mali nichts reden, da hat sie gelacht und gesagt: Was glaubst du denn, die Mali weiß doch so alles; vielleicht besser als wir zwei zusammen. Und dann erst hat die Mali das von den Juden gesagt. Und jetzt bin ich die dumme Gans. Also weiß ich wenigstens, was ich bin, eine dumme Gans. Und das sagt einem die beste Freundin, die man hat.
7. November: Die Hella und ich sind sehr kühl zusammen. Wir gehen miteinander, aber wir reden nur das ganz Gewöhnliche von der Schule und vom Lernen, sonst nichts. Seit heute gehen wir aufs Eis, so oft wir Zeit haben, das ist leider nicht sehr oft. Die Mama arbeitet für uns an dem Teppich. Es ist eine gräuliche Arbeit, aber sie hat doch weniger zu tun als wir.
8. November: Aufs Eis kommt ein wunderbares Fräulein; sie läuft großartig Bogen, Achter und Figuren. Ich bin hinter ihr gelaufen. Wie sie in die Garderobe ging, duftete es um ihr riesig. Ob sie bald heiraten wird und ob sie das alles weiß? Sie ist so schön und streicht sich immer die Haare aus der Stirn, wenn sie ihr hereinfallen. So schön möchte ich auch sein; dann wäre ich glücklich. Aber leider bin ich schwarz und sie ist blond. Wenn ich nur erfahren könnte, wie sie heißt und wo sie wohnt. Morgen muss ich wieder aufs Eis; lieber lern ich in der Nacht.
9. November: Ich bin ganz aufgeregt; sie war nicht am Eis. Vielleicht ist sie krank.
10. November: Heute auch nicht. Ich bin zwei Stunden dort geblieben, aber leider umsonst.
11. November: Endlich! heute kam sie. Gott, sie ist so schön.
12. November: Sie hat mich angeredet. Ich stehe neben der Tür und auf einmal hör ich hinter mir lachen, und da hab ich gleich gewusst: Das ist sie! Und richtig, da kommt sie und sagt: Wollen wir zusammen laufen? Oh bitte, wenn Sie es gestatten, sag ich und wir machen Gitter und laufen mit einander. Mir schlug das Herz bis zum Halse, und ich möchte immer was reden, aber mir fällt gar nichts Vernünftiges ein. Und wie wir zur Tür kommen, steht schon ein Herr da und grüßt sie und sie grüßt auch, und zu mir sagt sie: Auf Wiedersehen. Da frag ich noch schnell: Wann, morgen? Ja, vielleicht, ruft sie. – – – Nur vielleicht, vielleicht, wenn es nur schon morgen wäre.
13. November: Die Inspee behauptet, sie heißt Anastasia Klastoschek. Aber das ist nicht wahr,