Das Lexikon der uncoolen Dinge. Harry Luck

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Das Lexikon der uncoolen Dinge - Harry Luck

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kein Spießer …

       (Manuel Andrack war 13 Jahre lang Redaktionsleiter und Co-Moderator in der Harald-Schmidt-Show. Heute tritt er als Wander-Experte und Buchautor in Erscheinung.)

      Wie spießig ist es, ein Buch zu schreiben?

      Vielleicht ist es sogar spießig, ein Buch zu schreiben, anstatt seine Gedanken in Blogs oder über Twitter zu verbreiten. Der Hauptvorwurf gegen den heutigen Spießbürger lautet, dass er sich engstirnig, mutlos und angepasst verhält und nach der Maxime lebt: „Was sollen die Leute denken?“ Dabei ist der intelligente Spießer, der sein gepflegtes Uncoolsein zur Lebenseinstellung macht, der eigentlich Mutige, der sich über Konventionen hinwegsetzt und die Marschbefehle von Trendsettern und Modepäpsten ignoriert, um seinen eigenen Weg zu gehen. Gut ist, was zweckmäßig und praktisch ist - und schmeckt.

      In dem Buch Resturlaub von Tommy Jaud geht es um einen Junggesellenabschied, der schon vor 23 Uhr zu Ende geht, was zu dem Dialog führt: „Ich versteh das nicht. Wie kann man in unserem Alter schon so spießig sein?“ – „Wie meinst’n du das, ‚in dem Alter‘? Wir gehen doch alle auf die vierzig zu!“

      Dieses Buch ist vermutlich nicht zufällig in meinem vierzigsten Lebensjahr entstanden, das magische, alles verändernde Datum immer im Blick, das die Spätjugendzeit endgültig beendet und die Vorbereitungsphase auf die Altersteilzeit einleitet, was manche in die Midlife-Crisis stürzt. Denn mit vierzig kann man sich nicht einmal mehr „Enddreißiger“ nennen, der nächste runde Geburtstag macht ein halbes Jahrhundert voll, und ich erinnere mich noch genau an meine Gedanken, als die Idole meiner Teenie-Zeit wie Dieter Bohlen oder Lothar Matthäus fünfzig wurden: „Alte Knacker mit Kurzhaarschnitt in Maßanzügen!“

      Wer die Kindheit endgültig hinter sich gelassen hat, wird gelassener bezüglich der gesellschaftlichen Anforderungen jener, die das Leben noch vor sich haben und denken, die Weisheit schon mit dem Breilöffel zu sich genommen zu haben. Egal, was meine Kegelbrüder denken: Ich trinke lieber Apfelschorle und alkoholfreies Bier und genehmige mir, nachdem ich mit dem Bus nach Hause gefahren bin, in meinem tapezierten Wohnzimmer mit Schrankwand noch ein Glas Eierlikör und schaue dabei ZDF. Und ich will mich dafür nicht mehr rechtfertigen müssen! Mit vierzig denke ich, genug Lebenserfahrung gesammelt zu haben, um zu wissen, was gut für mich ist. Egal, ob andere das cool finden oder nicht.

      Neben dem Alter ist der Wohnort der zweite Aspekt, der darüber entscheidet, was als spießig gilt und was nicht. Dass der oben genannte Roman Resturlaub in Bamberg spielt, ist bezeichnend. Denn während ich dieses Spießer-Buch geschrieben habe, bin ich von der Metropole München, wo ich in einer coolen Online-Redaktion gearbeitet habe, ins provinzielle Bamberg gezogen, um dort einen – in der Wahrnehmung mancher – eher uncoolen Job in der Öffentlichkeitsarbeit wahrzunehmen. Was mir bereits nach wenigen Wochen in Bamberg aufgefallen ist: Während in der Münchner Innenstadt Männer mit Kurzarmhemden so selten und auffällig sind wie ein bunter Clown mit einer Pappnase, ist es in Bamberger Kaufhäusern kaum möglich, andere Kleidungsstücke als Kurzarmhemden zu erstehen. Und dass, wie ich bei den Recherchen zu diesem Buch festgestellt habe, der Deutsche Minigolf-Verband in Bamberg ansässig ist, kann auch kein Zufall sein.

      Auch wenn man sich leicht zum Außenseiter macht, indem man den Trends nicht folgt: Ich habe mich schon bei TKKG mehr mit dem nerdigen Karl identifiziert als mit Superheld Tarzan/Tim – überhaupt fand ich die piefigen TKKG-Hörspiele besser als die Horrorschocker mit den drei ???. Ich sah mich nicht nur outfitmäßig mehr bei Thomas und Annika als bei Pippi Langstrumpf, und in Sachen Verbrechensbekämpfung habe ich lieber Derrick im Trenchcoat als Freund und Helfer als den „Scheiße“ rufenden Schimanski in seiner stinkenden Lederjacke.

      „Die Klage über den Spießer, mag sie auch manchmal selbstgerecht klingen, ist doch immer die Klage des Unterlegenen, der sich bedroht fühlt“, schrieb Jens Jessen in der Zeit. Die Süddeutsche Zeitung ergänzte: „Man ist von Spießern nicht nur umgeben, man sieht leider auch täglich beim Blick in den Spiegel einen.“ Und der Spiegel – also das Nachrichtenmagazin – stellt schlichtweg fest: „Unspießig sein ist ein Privileg der Jugend.“ Und die, so ergänze ich, endet spätestens mit dem vierzigsten Geburtstag, an dem auch jeder Punker anfangen wird, seinen Irokesenschnitt akkurat zu kämmen und seine Piercings zu polieren. Der Punkrocker Johnny Ramone, der eigentlich den spießbürgerlichen Namen John William Cummings trug, entlarvte sich in seiner Autobiografie als der „spießigste Punker der Welt“ (SPIEGEL ONLINE), der statt Revolution lieber eine sichere Rente wollte. Statt für Sex, Drugs und Rock’n’Roll schwärmte er für Milch mit Keksen. Vielleicht trank er nach seinen Konzerten sogar Eierlikör.

      Und seien wir doch mal ehrlich: Das Spießigste ist doch, andere als Spießer zu bezeichnen!

      Eierlikör

      Eierlikör ist neben Apfelschorle und Filterkaffee das am meisten unterschätzte Getränk – und genießt völlig zu Unrecht einen katastrophalen Ruf. Viele erwachsene Männer würden eher zugeben, zu Hause Heintje-CDs zu hören oder Strapse zu tragen, als öffentlich eine Flasche Eierlikör zu kaufen. Doch bevor wir zum gelben Göttertrunk kommen, müssen wir über Gerhard Tschierschnitz aus Haselborn reden – und Maria aus Bahia.

      Wer kennt ihn nicht, den Evergreen unter den Werbeslogans: „Ei, Ei, Ei Verpoorten, ob hier und allerorten.“ Entstanden ist das eingängige Firmenmotto im Jahr 1961, als die etwas schwerfällige Parole „Erquickt den Gaumen, labt und kräftigt, stimmt froh und heiter, daheim und allerorten: Verpoorten“ völlig zu Recht abgelöst wurde.

      Ausgerechnet während eines Aufenthalts in Brasilien, dem Ursprungsland des Eierlikörs, komponierte der Grandseigneur des französischen Chansons, Paul Misraki, einen Samba-Rhythmus „Ay, ay, ay, Maria, Maria aus Bahia“, den der deutsche Schlagersänger Gerhard Tschierschnitz zu einem Hit machte. Als Sohn eines Werkzeugmachers wurde Tschierschnitz 1920 in Berlin geboren, begann bei Telefunken eine Mechanikerlehre und fiel schon mit vierzehn als Sänger auf einer Betriebsfeier auf. 1945 kaufte er den Ausweis eines gestorbenen Ungarn namens René Carol und befreite sich damit selbst aus der Kriegsgefangenschaft. Mit diesem neuen Künstlernamen trat er in Bars und Nachtklubs auf. 1950 war „Maria aus Bahia“ seine erste Soloschallplatte und der Beginn einer großen Schlagerkarriere, die erst mit dem Aufstieg der Beatles endete. Carol war damals zweiundvierzig und sagte später: „Als älterer Herr konnte ich mich nicht wie so ein Beatle kleiden und diese Musik machen.“ Er zog sich zurück aus dem Musikgeschäft und trat noch jahrelang in Altersheimen oder auf Betriebsfeiern auf.

      René Carol ist heute fast vergessen, sein Lied ist als Verpoorten-Song aber nach wie vor ein Ohrwurm, und die Bonner Firma muss immer noch zähneknirschend Gema-Gebühren dafür zahlen, wenn ihre Erkennungsmelodie im Werbefernsehen erklingt. Im Jahr 2000 wurde sogar für den Weltmarkt eine internationale Fassung getextet, die lautet: „I, I love Verpoorten, come hear me, when I’m calling.“

      Die Geschichte des Eierlikörs ist jedoch weitaus älter als die des Verpoorten-Songs. In der brasilianischen Heimat von „Maria aus Bahia“ – Bahia ist das heutige Salvador – begeisterten und berauschten sich europäische Eroberer im 17. Jahrhundert an einem Erfrischungsgetränk, das die Ureinwohner im Amazonas „Abacate“ nannten. Hergestellt wurde der Trunk aus Rohrzucker, Rum und dem butterweichen Fruchtfleisch von Avocados, woher die Bezeichnung „Advocat“ kommt, die noch heute auf vielen billigen Discounter-Eierlikören steht. Der aus Antwerpen stammende Schnapsbrenner Eugen Verpoorten hatte 1876 die bahnbrechende Idee, die in Europa nicht vorhandenen Avocados durch Eidotter zu ersetzen: Der Eierlikör war erfunden und eine Dotterdynastie geboren, und die angeblich bis heute unveränderte Rezeptur ist so streng gehütet wie die von Coca-Cola.

      Neunzig Prozent der Deutschen kennen

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