Das Lexikon der uncoolen Dinge. Harry Luck

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Das Lexikon der uncoolen Dinge - Harry Luck

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geben, als wenn bei „Aktenzeichen XY“, der Mutter des Reality-TV, immer wieder das Blut in den Adern gefriert, wenn es heißt: „Gustav B. ahnte nichts, als er wie jeden Morgen zur Arbeit fuhr …“

      Mit dem Zweiten sieht man bekanntlich besser, und im Zweiten herrschen noch Anstand und Sitte. Eine Pöbelei, wie sie sich Dieter Bohlen bei der Superstarsuche leistet, wäre auf dem Mainzer Lerchenberg ebenso undenkbar wie das öffentliche Zurschaustellen von minderbemittelten Junggesellen oder auf dem Heiratsmarkt übrig gebliebenen Landwirten, das gegen alle Menschenrechtskonventionen verstößt. Im Privatfernsehen werden die „Nervigsten Deutschen“ sogar mit einem eigenen TV-Format kultiviert. In der heilen Vorabend-Welt der Mainzelmännchen hingegen gibt es keinen Klimawandel, keine Arbeitslosigkeit und keine Finanzkrise. Die größten Probleme am Vorabend sind Blasenschwäche, Sodbrennen, Haarausfall und Hexenschuss – und mit dem nächsten lustigen Mainzelmännchen-Spot wieder vergessen.

      Mit meiner neuen DVB-T-Antenne kann ich nur öffentlich-rechtliche Sender empfangen. Ich spare jeden Monat Kabelgebühren und vermisse – nichts. Dagegen werde ich in der ersten Reihe des ZDF als Zuschauer respektiert und ernst genommen. Wo sonst wird man heute noch mit „verehrte Zuschauer“ angesprochen? Dafür zahle ich gerne Gebühren – oder wie es heutzutage heißt: Rundfunkbeitrag.

      Die Autorität der roten Ampel

      „Gehst du über Rot, bist du bald tot.“ Das steht zwar so nicht wörtlich in der Straßenverkehrsordnung, ist aber eine Lebensweisheit, die durch jede Unfallstatistik untermauert wird. Im Straßenverkehr sterben mehr Menschen als durch Kriege, Völkermord oder Terrorismus. Im Vergleich zu fast viertausend Verkehrstoten jährlich in Deutschland und über einer Million (und rund vierzig Millionen Verletzten) weltweit sind die Opferzahlen aller Vogelgrippen und Rinderseuchen zusammengenommen kaum noch messbar. Natürlich ist nicht jeder Verkehrstote über eine rote Ampel gegangen, sondern viele werden unverschuldet Opfer von rasenden Nicht-Apfelschorle-Trinkern. Doch wer gegen die Wartepflicht an einer roten Ampel verstößt, riskiert nicht nur seine körperliche Unversehrtheit, sondern auch ein Bußgeld von mindestens fünf Euro und ist auch jenen Kindern, die den Regelverstoß zufällig beobachten könnten, ein schlechtes Vorbild. Es gibt auch noch den besonders schlauen Anarchisten, der im Rotlicht-Milieu fünf Meter neben der Ampel die Straße überquert und sich einbildet, das Verbot und damit die Strafe buchstäblich umgangen zu haben, weil die StVO ein solches „Vorgehen“ nicht berücksichtigt hat.

      Aber darum geht es hier gar nicht in erster Linie. Denn eine Ampel strahlt neben ihrem roten Licht eine staatliche Autorität aus, die auch dann gültig ist, wenn weder Polizist noch Pimpf in der Nähe sind. Wer nachts um halb drei an einer einsamen Seitenstraße das Haltesignal missachtet, begeht nur scheinbar ein Kavaliersdelikt. Unser gesamtes staatliches Gemeinwesen beruht auf Regeln und Gesetzen, die wir uns selbst auferlegt haben. (Schon vergessen? Demokratie ist die Herrschaft des Volkes. Die Politiker, die über den Bußgeldkatalog entscheiden, haben wir selbst gewählt.) Und wer den Paragraf 49, Absatz 3, der StVO missachtet, der hält es vielleicht in anderen Situationen auch mit anderen Vorschriften nicht mehr so genau. Dass ein Rotsünder auch ein potenzieller Bankräuber ist, kann hier weder behauptet noch bewiesen werden. Doch ohne Zweifel wäre eine Welt ohne Gesetzesbrecher und Regelverletzer zwar vielleicht spießig, dafür aber friedlich.

      Verkehrsregeln haben ihren Sinn, und wer bei Rot stehen bleibt, akzeptiert den Sinn dieser Regeln, von denen er schließlich auch selbst profitiert: Denn wer in eine Einbahnstraße fährt, kann zu 99,9 Prozent sicher sein, dass ihm kein Fahrzeug entgegenkommt.

      Die Wechsellichtzeichenanlage in einer einsamen Sackgasse bei Dunkelheit ist nicht nur ein Verkehrszeichen, sondern auch ein Symbol für ein funktionierendes Gemeinwesen. „Lieber rot als tot“, sagte man in früheren Zeiten. Heute bedroht uns nicht mehr der Kommunismus, sondern die zügellose Anarchie. Daher sollte es heute heißen: „Lieber ein spießiger und lebendiger Staatsbürger als ganz cool vom Auto überfahren werden.“ Und wer von allen Argumenten der Lebenserhaltung unbeeindruckt bleibt und das Rotlicht nur dann beachtet, wenn eine Strafe droht, der sollte sich fragen lassen, ob er im Kaufhaus auch klauen würde, wenn die Detektive streiken, oder seinem Partner nur treu ist aus Angst davor, beim Seitensprung erwischt zu werden.

      Über das Klauen von Zeitungen und Christbäumen

      Ähnlich wie mit der roten Ampel verhält es sich mit den sogenannten stummen Verkäufern. Die Metallboxen mit Plexiglasdeckel am Straßenrand, in denen vom Boulevardblatt bis zur Qualitätszeitung alles feilgeboten wird, was die Tagespresse im Sortiment hat, heißen nicht umsonst stumme „Verkäufer“. Wenn die darin liegenden Zeitungen als Werbegeschenke zum Mitnehmen gedacht wären, hießen sie vielleicht „stumme Spender“. Allein die Tatsache, dass der Verkauf von Zeitungen zu jeder Tages- und Nachtzeit auf diese Weise unkompliziert und ohne Kontrollfunktion und Wechselgeldrückgabe möglich ist, verleitet den einen oder anderen dazu, dies als Gratis-Mitnahmeeffekt zu betrachten. Denn dass die Aufschrift „Zahlungskontrolle jederzeit möglich“ eine eher leere Drohung darstellt, hat sich längst bis zum letzten Abo-Sparer herumgesprochen, zu denen auch mein Freund Bob gehört, dem sein wirklicher Name Benjamin schon lange zu spießig klingt. Ich glaube, er hat im Leben noch keine Zeitung bezahlt. Seine Lieblingsargumente lauten: „Die Verlage verschenken die Zeitungen auf diese Weise, um die Auflage hoch zu halten und damit die Anzeigenpreise zu sichern.“ Und: „In der Gesamtkalkulation sind die geklauten Zeitungen mit eingerechnet.“ Das mag sogar beides zutreffen, dennoch – das sei an dieser Stelle mal ganz spießig festgehalten – handelt es sich um Diebstahl, der in der perfidesten Form ausgeübt wird, indem statt des verlangten Betrags zwei Cent-Stücke eingeworfen werden oder gar – das beherrschen allerdings nur die abgebrühtesten Gratisleser – nur für die Umstehenden die Geldbörse gezückt und das Einwerfen einer klimpernden Münze vorgetäuscht wird. Diese Laiendarsteller hätten es zuweilen fast verdient, das gesparte Geld als Gage für ihre Schauspielkunst zu kassieren.

      Ähnlich funktionieren die „Snack-Boxen“ in vielen Büros, aus denen man sich gegen den Einwurf eines Euros Schokoriegel oder kleine Gummibärchentüten nehmen darf. In einem Büro, wo eine solche Box aufgestellt wurde, fehlte nach der ersten Abrechnung der stolze Betrag von fünfundvierzig Euro. Das heißt, dass etwa jede zweite Süßigkeit nicht bezahlt wurde. Die Snack-Box gab es bald darauf nicht mehr. Die Diebe sind nach wie vor unbehelligt auf freiem Fuß.

      Zeitungen werden bekanntlich aus Papier gemacht, das immer weniger aus Holz, also Bäumen besteht, aber dennoch: Hier wären wir beim nächsten vermeintlichen Kavaliersdelikt, das nur deshalb in der Statistik der Kleinkriminalität nicht auftaucht, weil es sich um ein saisonal begrenztes Vergehen handelt: den Christbaumklau.

      Von den zahllosen Tannenbäume, die alle Jahre wieder in der Adventszeit bei Nacht und Nebel heimlich im Wald geschlagen und daheim aufgestellt werden, dürften die wenigsten aufgrund von Bedürftigkeit gestohlen werden. Vielmehr handelt es sich um einen besonderen Kick und den Beweis besonderer Coolness, unter einem „selbst geholten“ Weihnachtsbaum scheinheilig „O du fröhliche“ zu singen. Doch anders als beim Zeitungsklau, wo es um Bagatellbeträge geht, kann der Diebstahl einer Nordmanntanne juristisch schnell zum Verbrechen werden: Ist das Diebesgut mehr wert als fünfzig Euro, handelt es sich für die Polizei nicht mehr um einen „Diebstahl von geringem Wert“. Dies sollte nur der riskieren, der einen Knastaufenthalt cool findet, denn es drohen bis zu fünf Jahre Haft. (Und aus diesem Grund kann ich mich wegen noch nicht abgelaufener Verjährungsfrist auch nicht über Bobs Tannenbaum äußern.)

      Den wenigsten Menschen in Deutschland geht es so schlecht, dass sie aufs Klauen angewiesen sind. Dennoch ist es für viele fast ein sportlicher Ehrgeiz, etwa den ungeliebten Arbeitgeber unbemerkt und dauerhaft zu schädigen, zum Beispiel, um eine längst überfällige Gehaltserhöhung auszugleichen. Ein früherer Kollege von mir hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, bis zur Pensionierung

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