Das Mädchen Ida. Maya Khoury
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Erst Jahrzehnte später sollte Licht in das Dunkel dringen.
Schließlich wurde die Akte des toten Kindes den ungeklärten Fällen zugeordnet.
Der nette Mann
Juli 1952
An einem heißen Sommertag im Juli spielte die kleine Ida vor der Wohnbaracke, die sie mit ihrer Mutter bewohnte, auf dem sandigen Weg mit bunten Murmeln. Das kleine aus Holz gebaute ehemals dunkelgrüne Häuschen lag in der Nähe eines Kanals. Es benötigte dringend einen Anstrich, denn die Farbe war durch das rauhe nördliche Klima ziemlich verblichen. Das Behelfsheim vermittelte einen kargen Anblick, war es doch an Einfachheit nicht zu überbieten. Aber die an der Frontseite rankenden gelben Teerosen ließen den ersten Eindruck vergessen. Ebenfalls die kleinen weißen Sprossenfenster verhalfen dem Haus zu einer schlichten Schönheit. Aber dafür hatte Ida noch keinen Blick. Eifrig warf sie ihre Murmeln in die kleine Mulde. Mit einem Stock hatte sie auch ein Hinke-Pinke-Spiel in den Sand gemalt. Aber im Moment gab sie den Murmeln den Vorzug, denn es war ihr zu heiß für das Hin- und Herspringen.
Ida hatte Schulferien und außerdem Langeweile.
Ida sah von ihrem Murmelspiel hoch. Ihr schien, als habe sie ein Geräusch vernommen. Tatsächlich hatte sie sich nicht getäuscht. Von weitem sah sie einen jungen Mann in einem grauen Anzug den Schotterweg herauf kommen. Er schlich vielmehr als dass er ging, denn die hochsommerlichen Temperaturen machten auch ihm schwer zu schaffen. Der junge Mann blieb bei Ida stehen und wischte sich die Schweißperlen mit einem großen karierten Taschentuch von der Stirn.
„Guten Tag,“ sagte er, „was spielst du denn gerade?“ Der Mann schaute interessiert auf die bunten Murmeln im Sand.
Komische Frage, dachte Ida, das sieht man doch. Meine Güte, ist der blöd.
„Ich bin Rolf,“ stellte er sich vor, als Ida nicht antwortete. „Und wie heißt du?“
Sie nannte ihm ihren Namen. „Woher kommst du denn?“ wollte Ida nun neugierig wissen.
„Ach,“ winkte Rolf ab, „das ist eine lange Geschichte.“ Er zog seine Jacke aus und streckte sich der Länge nach im Gras aus. Die Jacke legte er unter seinen Kopf. Er schien erschöpft zu sein. Nach einer Weile sagte er:
„Eigentlich komme ich aus Russland.“ Ida hatte keine Vorstellung, wie weit
Russland entfernt war. Im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg war ihr jedoch das Wort Russland geläufig. Auch in Erdkunde war das Land schon einmal angesprochen worden. Aber im Grunde interessierte sie seine Herkunft auch nicht.
Sie sah sich den jungen Mann nun etwas genauer an. Rolf ist nett, dachte sie wenig später. Sehr nett. Er unterhielt sich mit ihr und nahm sie Ernst. Das gefiel ihr. Denn ihre Mutter hatte wenig Zeit für sie, weil sie arbeiten musste. Der Vater war im Krieg gefallen.
Und Rolf hörte ihr aufmerksam. Als ob ich Rolf schon lange kenne, dachte Ida. Sie schaute ihn von der Seite an. Seine schwarz gelockten Haare hingen ihm wirr ins Gesicht und die hellblauen Augen strahlten Zuversicht und Vertrauen aus. Sie begann, ihn zu mögen. Dann schwiegen beide. Ida und Rolf lagen im Gras und hingen ihren Gedanken nach. Auch Ida war nun durch die sommerliche Hitze ein wenig schläfrig geworden.
Plötzlich setzte sich Rolf auf und sah auf Ida hinunter, die mit halb geschlossenen Augen in die Sonne blinzelte. Eine ganze Weile schaute er sie an, als präge er sich ihr Gesicht ein. Ida stutzte, denn so lange und ausgiebig hatte sie noch niemand angeschaut.
Ida setzte sich nun ebenfalls auf.
„Du hast so schöne blonde Zöpfe,“ flüsterte Rolf und strich ihr über den Kopf.
Dann öffnete er ihre Zopfspangen und entflocht ihr Haar, bis es ihr wie glänzende Seide über die Schultern fiel.
„Darf ich es einmal sie anfassen?“ fragte Rolf, wartete jedoch ihr Einverständnis nicht ab, sondern strich mit den Fingern seiner rechten Hand langsam durch ihr Haar. Ida staunte nicht wenig. Das hatte noch niemand auf diese Weise getan und es machte sie stolz, dass jemand ihr Haar berühren wollte.
„So weich wie fließende Seide,“ murmelte er und seine Miene überschattete sich, als zöge ein plötzliches Gewitter auf. Rolf schien mit einem Mal traurig zu sein.
„Ich hatte auch so ein kleines Mädchen wie dich,“ sagte er, mehr zu sich selbst und seufzte laut. Dann stand er abrupt auf und klopfte ein paar Grashalme von seiner Hose.
„Ich muss wohl gehen,“ meinte er. „Jetzt schon?“ beschwerte sich Ida sofort und war ziemlich enttäuscht. Er war doch kaum hier gewesen.
„Dann bin ich ja wieder allein.“
Rolf sah sie mitleidig an. „Wir sehen uns bestimmt wieder,“ tröstete er sie.
Da sah sie ihre Mutter auf dem Fahrrad ankommen. Sie stieg ab und blickte den Fremden misstrauisch an. Wen hatte Ida da denn angeschleppt? Sofort beschlich sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so wenig Zeit für ihre Tochter erübrigen konnte.
Aber wer sonst sollte für ihren Lebensunterhalt aufkommen?
„Mama, das ist Rolf,“ stellte ihre Tochter den jungen Mann vor. Der machte eine elegante Verbeugung. Von Höflichkeit verstand er etwas. Idas Mutter beeindruckte sein tadelloses Verhalten. Sie unterhielten sich vor dem Haus über belanglose Dinge und ihre Mutter schien schon bald von dem netten Rolf angetan zu sein. Ida war erfreut, dass Rolf bei ihrer Mutter nicht auf Ablehnung gestoßen war. Sie war da ziemlich wählerisch. Wenn sie jemanden nicht mochte, ließ sie das denjenigen durch ihre Schroffheit spüren.
Rolf wandte sich jedoch zum Gehen.
„Sie werden doch noch so viel Zeit haben, um mit uns eine Tasse Tee zu trinken?“ fragte Idas Mutter und hoffte, der junge Mann würde bleiben. Denn auch sie mochte ihn auf Anhieb. Rolf war sofort einverstanden. Ohne lange zu überlegen.
Idas Mutter bat ihn hinein und obwohl sie von der Arbeit sehr müde war, setzte sie einen Kessel mit Wasser auf und kochte eine große Kanne Tee. Dazu gab es Zwieback, der allerdings nicht mehr besonders mundete, weil er schon alt war. Das war Idas Mutter peinlich, aber Rolf beruhigte sie und sagte:
„Das macht doch nichts. Ich mag sie trotzdem.“
Rolf erzählte ihr, dass er in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen sei und vor einem halben Jahr aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden war. Idas Mutter horchte auf. Russland, ein schreckliches Wort. Ihr Mann Hans war in Russland gefallen. Doch als sie Näheres erfahren wollte, wich Rolf aus und wechselte schnell das Thema. Sicher hat er seine furchtbaren Erlebnisse noch nicht verarbeitet, vermutete sie. Das war ja auch nicht einfach. Aber Rolf war wenigstens aus Russland zurückgekehrt. Viele andere hatten in der Fremde ihr Grab gefunden. Wie Hans. Doch das war alles schon so lange her. Und jetzt war Rolf da.
„Darf ich