Unter Piraten. Miriam Lanz

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Unter Piraten - Miriam Lanz

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Praxis lag in einer der vielen schattigen, engen Gassen nahe der Hauptstraße.

      Tom rannte zu der belebten Hauptstraße. Der Arzt gab der braunen Stute die Sporen, um den Zimmererlehrling nicht zu verlieren. Er hatte den Jungen unter den vielen Menschen, die bei seinem Anblick schnell aus dem Weg gingen, in dem Moment wieder erkannt, als er in eine breite Seitenstraße einbog.

      Schon von weitem konnte der Arzt das unfertige Fachwerkhaus erkennen. Die hellen Holzbalken bildeten einen deutlichen Kontrast zu den dunklen, alten Häusern ringsumher. Steward trabte an Tom vorbei zu einer Gruppe Männer, die bei dem Klappern der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster überrascht aufsahen.

      Zwei Männer griffen nach den Zügeln der Stute, um sie zu beruhigen, während Dr. Steward schwungvoll vom Rücken des Tieres stieg. Im Vorbeigehen drückte er einem Mann seine Tasche in die Hand. Dann sah er Jack Thayor.

      Der Junge lag auf dem Asphalt, das linke Bein war in einem unnatürlichen Winkel von seinem Körper gestreckt und darunter hatte sich sein Hosenbein tief rot gefärbt. Dr. Steward beugte sich zu dem bewusstlosen Körper des Jungen hinunter und suchte an seinem Hals den Pulsschlag. Als er ihn unter seinen Fingerspitzen fühlte, nickte er - mehr zu sich selbst, als auf die ihm gestellte Frage, ob Jack noch lebte.

      Mit größter Vorsicht richtete er Jacks Bein wieder in eine normale Position und griff nach seiner Tasche, um das Bein mit einem Lederband oberhalb des offenen Bruchs abzubinden. Dann richtete er sich an die herumstehenden Männer.

      „Bringt ihn in meine Praxis. Ich werde vorausreiten.“

      ---

      Einige Zeit später öffnete Steward die Tür seiner Praxis um Max Randoll, der Jack trug, eintreten zu lassen.

      „Leg´ ihn dahin!“ Der Arzt deutet auf eine schmale Liege an der Wand, rechts neben dem Glasschrank.

      Steward schnitt Jack das linke Hosenbein auf und zog ihm Schuh und Strumpf aus. Mit sicheren, sorgfältigen und geübten Griffen, die er bereits seit über zwanzig Jahren vollzog, richtete er Jacks Knie und seinen gebrochenen Oberschenkel in die richtige Position ein und wusch die offene Wunde gründlich mit heißem Kamillenwasser aus, ehe er sie schließlich nähte. Anschließend bandagierte er das ganze Bein und schiente es.

      Max Randoll, der hinter dem Arzt stand, war blass geworden.

      „Auf meinem Schreibtisch stehen eine Flasche Wein und einige Gläser. Bedient Euch! Und dann solltet Ihr an die frische Luft gehen“, erklärte er ohne von Jack aufzusehen.

      Als er das vertraute Klirren der Gläser hinter sich hörte, begann er das Hemd seines Patienten aufzuknüpfen. Mit je zwei Fingern fuhr er sorgfältig und gleichmäßig über den Brustkorb des Jungen, um seine Rippen zu prüfen. Wie er vermutet hatte, waren die zwei untersten auf der rechten Seite gebrochen.

      Die Tür flog auf und eine blasse, Hände ringende Frau kam in die Praxis gestürmt, dicht gefolgt von einem großen stämmigen Mann, dessen Besorgnis nicht zu übersehen war.

      „Mein armes Kind!“, stieß die Frau aus und beugte sich über Jack.

      Steward musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und trat einen Schritt zurück.

      „Harold und Millecent Thayor”, stellte sich Jacks Vater mit einer knappen Verbeugung vor.

      „Sir, wie geht es meinem Sohn?“ Mrs. Thayor fuhr ihrem Sohn durch die Haare; Tränen ob seines Anblicks standen ihr in den Augen.

      „Vom jetzigen Stand aus kann ich sagen, dass Euer Sohn eine Oberschenkelfraktur und zwei Rippenbrüche erlitten hat. Allerdings ist meine Diagnose unvollständig, da meine Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist“, berichtete der Arzt ruhig. Mr. und Mrs. Thayor waren noch blasser geworden.

      „Na was is´?”, fragte Harold Thayor gereizt. „Warum fahrt Ihr mit Eurer Arbeit nich´ fort? Nur weil Ihr Eure Nichte verloren habt, heißt das ja nich´, dass wir unseren Sohn auch verlieren müssen!“

      Steward sah ihn für einen Moment aus kalten Augen an.

      „Ihr könnt froh sein, dass ich einen Eid gegenüber meinen Patienten geschworen habe, denn sonst wäre ich versucht, Euch mitsamt Eurem Sohn auf die Straße zu schicken!“

      Doch noch während er sprach, wandte er sich wieder Jack zu.

      „Ich kann keinen Schädelbruch erkennen“, sagte Dr. Steward, nach einer gründlichen Untersuchung von Jacks Kopf.

      „Ihr könnt Euren Sohn nach Hause bringen. Ich werde Euch einige Arzneien geben. Damit könnt Ihr seine Schmerzen lindern. Wenn er aufwacht, versucht mit ihm zu sprechen und gebt ihm zu trinken - vielleicht eine lauwarme Brühe. Ich werde morgen wieder nach ihm sehen. Sollte sich allerdings irgendetwas während der Nacht ereignen, lasst nach mir schicken.“

      Mr. Thayor nickte nur kurz und ging zu seinem Sohn.

      „Die Arzneien und die kommenden Hausbesuche eingeschlossen wären das ein Pfund und zehn Schillinge“, fuhr der Arzt tonlos fort.

      „Ich weiß nicht, wie ich Euch danken kann, Sir. Ihr habt meinem Sohn das Leben gerettet. Ohne Euch wäre er jetzt tot“, bedankte sich Mrs. Thayor überschwänglich, während sie den Arzt bezahlte.

      Steward nickte nur. Im Moment wünschte der sich nichts mehr, als endlich in Ruhe gelassen zu werden.

      „Millecent, komm wir geh´n! Wir haben hier schon genug Zeit verbracht“, rief Harold Thayor, der mit seinem Sohn auf den Armen in Richtung Tür ging, forsch.

      „Auf Wiedersehen Sir, und nochmals tausend Dank!“, verabschiedete sich Mrs. Thayor mit einem Knicks, ehe sie zur Tür eilte, um sie ihrem Mann aufzuhalten.

      Als die Tür ins Schloss fiel, amtete Steward erleichtert auf.

      ‚Endlich!’

      Er ließ sich auf dem gepolsterten Schreibtischstuhl nieder und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Seine Gedanken kreisten um Thayors Bemerkung. Gwyn… der Arzt seufzte schwer. Der Gedanke an seine Nichte trieb ihm Tränen in die Augen.

      ‚Warum? Warum meine Gwyn?’

      Nach einem kurzen Moment, in dem sich Stille über die Praxis gelegt hatte, die nur von dem regelmäßigen Ticken der Standuhr durchbrochen wurde, erhob er sich ruckartig und ging zum Medizinschrank.

      Neben dem Schmerz, dem unsagbaren Schmerz, der mit Thayors unbedachter Bemerkung wiederkam, kehrte auch sein Pflichtgefühl zurück - die Verantwortung, die Steward gegenüber seinen Patienten trug. Zudem kam ihm jede Ablenkung gelegen.

      Der Arzt überflog die Etiketten der Fläschchen und Dosen, um sie -nach Wichtigkeit und Wirkung sortiert- in verschiedene Fächer des Schranks zu stellen.

      Plötzlich rollte eine kleine, runde Flasche über den Rand des obersten Faches. Beinahe wäre sie auf den Boden gefallen, doch einem sicheren Reflex folgend fing sie der Arzt auf.

      Interessiert betrachtete er das Fläschchen von allen Seiten. Der milchig trübe Inhalt leuchtete verheißungsvoll in dem rot-goldenen Licht, das die untergehende Sonne durch die großen Fenster der Praxis warf.

      Dr. Steward war diese Flüssigkeit keineswegs unbekannt. Er konnte sich tatsächlich noch

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