Unter Piraten. Miriam Lanz
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„Wo ist denn Eure Nichte? Ich meinte, Ihr hättet geschrieben, dass sie mit Euch kommt“ , fragte der Gouverneur unvermittelt.
Wilde, der die Arme hinter dem Rücken verschränkt hatte und stumm neben den beiden Herren stand, warf einen kurzen Blick auf den Arzt. Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete der Kapitän, er könnte die Etikette vergessen und in Tränen ausbrechen, doch Dr. Steward war Herr seiner Selbst.
„Meine Nichte ist bei dem Sturm, in den wir vor wenigen Tagen gerieten, verunglückt“, erklärte er trocken.
„Es tut mir außerordentlich Leid dies hören zu müssen. Mein herzlichstes Beileid, Dr. Steward“, sagte Hamilton mitfühlend und richtete sich dann an Wilde, der von einem leichten Unbehagen befallen wurde.
„Wie viele weitere Verluste müssen wir durch den Sturm bedauern?“
„Vierundachtzig arme Seelen. Unter ihnen ist auch Julian Alester, der erste Offizier“, entgegnete Wilde nüchtern.
„Nach dem Aussehen des Schiffes zu urteilen, muss der Sturm sehr stark gewesen sein. Und dennoch hat ein beträchtlicher Anteil der Mannschaft überlebt. Wilde, Ihr seid ein fähiger Kapitän!“, lobte Hamilton und wies Dr. Steward und den Kapitän zu einer bereitstehenden Kutsche.
„Vielen Dank, Sir.“ Wilde konnte seine Überraschung bei den Worten des Gouverneurs nur mit Mühe verbergen.
‚Was für ein Heuchler!’
Von der einst einhundertfünfundsiebzigköpfigen Besatzung hatten nur einundneunzig Männer überlebt und das war nach Wildes Empfinden alles andere als ein ‚beträchtlicher Anteil’. Noch vor einigen Minuten hatte er um seine Stellung gebangt und nun schien ihn Lord Hamilton geradezu zu lobhuldigen.
'Ich hätte es wissen müssen!'
Niemand würde es wagen, den Sohn des ehrenwerten Admiral Daniel Wilde zu degradieren. Oder auch nur ein schlechtes Wort über ihn zu sagen - zumindest nicht in aller Öffentlichkeit und in seinem Beisein. So war es schon immer gewesen. Man hatte ihm niemals Steine in den Weg gelegt, denn der Einfluss seines Vaters war grenzenlos.
Wilde war mit achtzehn Jahren zum Offizier ersten Grades befördert worden und war nun - mit gerade erst einundzwanzig Jahren - jüngster Kapitän in der Geschichte der Royal Navy.
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Die Kutsche fuhr zunächst durch das heruntergekommene Hafenviertel. Schäbige Kneipen mit dreckig ausladenden Hausfassaden reihten sich dicht aneinander. Ein fauliger Geruch lag in der Luft. Nur einige, trotz dieser frühen Stunde, betrunkene Männer waren auf der Straße zu sehen und vereinzelt standen Prostituierte am Straßenrand.
Je näher die Kutsche dem Marktplatz der Kolonialstadt kam, desto mehr Menschen waren auf den Straßen. Auf dem Platz selbst herrschte, unter der prallen Mittagssonne, das übliche geschäftige Treiben. Die Kutsche wurde langsamer; vereinzelt musste sie sogar gänzlich anhalten.
Dr. Steward verfolgte das rege Treiben der Stadt, das ihm eine willkommene Abwechslung bot, aufmerksam, während Kapitän Wilde dem Gouverneur über die Geschehnisse der Reise Bericht erstattete.
Stände mit Fisch- und Fleischwaren standen neben Tischen voller orientalischer Gewürze. Tische mit Schmuck schienen nahtlos in Gemüse- und Obstständen überzugehen. Tausend verschiedene Gerüche und Düfte lagen in der Luft. Marktschreier versuchten mit lauten Stimmen das Gerede der Menschen, das zu einem allgemeinen Stimmengewirr verschmolzen war, zu übertönen. Händler priesen überschwänglich gestikulierend ihre Waren an.
Zwischen den Ständen war eine gewaltige Menschenmenge zusammengekommen. Steward erkannte im ersten Augenblick nicht, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, dann aber sprangen einige junge Männer zur Seite und gaben den Blick auf einen riesigen Tanzbären frei.
Plötzlich hielt der Kutscher laut fluchend an. Die Pferde wieherten panisch. Einige Kinder waren vor der Kutsche vorbeigelaufen. Ein Mädchen drehte im Laufen ihren Kopf.
Für einen flüchtigen Augenblick glaubte der Arzt, in dem Mädchen seine Gwyn zu erkennen. Dr. Steward senkte den Blick und unterdrücke nur mit Mühe ein Seufzen als das Pferdegespann weiterfuhr.
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Mit einem leichten Ruck hielt die Kutsche an.
‚Endlich!’
Erleichtert der stickigen Luft im Innenraum des Gefährts zu entkommen, stieg Wilde nach dem Gouverneur und Steward aus und sah sich, von einer ungewohnten Neugier ergriffen, um. Die Kutsche hatte vor einer weißen Villa angehalten. Das Gebäude besaß viele große Fenster. Vor dem Eingang standen Marmorsäulen, die einen Balkon stützten, der von einem äußerst aufwendig verarbeiteten schmiedeeisernen Geländer umgeben war.
Vor der hohen Umzäunung des Anwesens waren viele, kunstvoll zugeschnittene Rosen- und Fliederbüsche, deren Duft, durch die leichte Brise, Wilde angenehm entgegenströmte.
Als der Kapitän den angenehm kühlen Salon betrat, bot sich ihm ein sehr vertrautes Bild. Die hohe Gesellschaft von Kingston stand in kleinen Gruppen zusammen und unterhielt sich. Der Gouverneur war zu einigen Herren gegangen, um mit ihnen zu sprechen, wobei er zu Wilde und Dr. Steward, der unweit des Kapitäns stand, gestikulierte. Einige Damen waren beim Eintreten des jungen Mannes verstummt. Ihre Blicke lagen auf ihm, ihre Fächer verbargen einen Großteil ihrer Gesichter.
„Kapitän Wilde! Darf ich Euch mit den Herren bekannt machen?“ Hamilton kam mit der Gruppe Männer zu ihm, als Wilde ein Glas Brandy von dem Tablett eines Angestellten nahm.
„Dies ist Mr. Jonathan Millstone, der Pastor von Kingston.“
„Guten Abend, Sir!“, Wilde schüttelte dem Kleriker die Hand.
„Dieser Herr ist Lord Simon Burton, er ist Friedensrichter“
„ Freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Sir!“
Nachdem Lord Hamilton Wilde alle ehrenwerten Männer von Kingston vorgestellt hatte, begab sich die Gesellschaft an den festlich gedeckten Tisch.
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Dr. Steward hatte stets eine gewisse Abscheu gegen jene Veranstaltungen der Gesellschaft gehegt, war aber pflichtbewusst zu ihnen erschienen und hatte sich die Zeit mit Debatten über politische Ereignisse, neue Steuern und die Kolonien vertrieben.
Der heutige Empfang aber erschien ihm wie eine langsame Folter.
Offensichtlich hatte sich die Neuigkeit vom Tod seiner Nichte schnell verbreitet, denn nach und nach sprachen ihm alle Anwesenden ihr Bedauern aus. Nach außen nahm es Dr. Steward mit Fassung hin, in seinem Inneren aber tobte ein Kampf.
Völlig teilnahmslos nahm er am Diner teil, ging auf keinen Gesprächsversuch der anderen Gäste ein und verabschiedete sich bevor die Herren der Gesellschaft sich in den Salon für einige Gläser Brandy begaben.
Noch ehe der junge Angestellte des Gouverneurs, der den Arzt zu seiner vom Empire gestellten Villa führte, anklopfen konnte, wurde die Tür von einem Dienstmädchen, offenkundig jamaikanischer