Unter Piraten. Miriam Lanz
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„Was geht hier vor?“ Die forsche Stimme des Kapitäns ließ Jack erschreckt herumfahren; er hatte nicht gehört, dass der Kapitän an Deck gekommen war.
„Sir, wenn Ihr Euch selbst überzeugen wollt?“ Thunder deutete ein wenig kleinlaut mit einem Nicken auf den Ort des Geschehens.
Der Kapitän folgte der Anweisung und für einen kurzen Augenblick konnte er seine Überraschung beim Anblick des Mädchens nicht verbergen.
Ein schlanker, äußerst elegant gekleideter Mann mittleren Alters mit einem besorgten Gesichtsausdruck trat an ihm vorbei:
„Gwyn? Großer Gott, Gwyn! Komm sofort wieder herunter! Hörst du?“
„Miss, Ihr solltet herunterkommen! Euch könnte etwas widerfahren! Gray, Thunder, holt sie runter sofort und mit größter Vorsicht!“ Kapitän Wilde hielt sich die Hand vor die Augen, um die Situation besser verfolgen zu können.
Mittlerweile hatte sich die ganze Mannschaft um den Mast versammelt und sah in gespanntem Schweigen zu dem Mädchen hinauf.
Diese hatte auffallend große, smaragdgrüne Augen; ihre dunkelblonden Haare waren am Hinterkopf zusammengesteckt. Sie trug ein zartblaues enggeschnittenes Kleid, ganz nach der neuesten Londoner Mode, mit Spitzenkragen und Volantärmeln, die vom Ellenbogen an immer breiten wurden.
Gwyn stand auf der Plattform und sah auf das Deck herunter.
Die Besatzung beobachtete, wie die beiden angewiesenen Männer an den Webeleinen, die zwischen den Wanten, den starken Seilen zu jeder Seite des Großmastes, gespannt waren und so als Sprossen für den Aufstieg dienten, hochkletterten, um ihr zu helfen.
Dr. James Steward war noch einen Schritt auf den Mast zugegangen; seine dreizehnjährige Nichte ließ er nicht aus den Augen. Seine Besorgnis war nicht zu übersehen.
Endlich stand Thunder ebenfalls auf der Mars, und hielt dem Mädchen auffordernd seine Hand entgegen.
„Kommt, Missy. Ich helfe Euch!“
„Warum?“, fragte sie sichtlich verblüfft.
„Mir geht es gut, ich brauche keine Hilfe.“ Beim Anblick der verdutzten Gesichter der beiden Matrosen begann sie zu kichern.
Inzwischen ging ein Raunen durch die Reihen der Männer an Deck.
„Eure Nichte ist wirklich erstaunlich, Sir. Sie überrascht mich immer wieder aufs Neue“, meinte Kapitän Wilde, der sich sichtlich genervt dem Arzt zuwandte. Während er den Kopf drehte, war jedoch einen Augenschlag lang die Spur eines Lächelns auf seinen Lippen erkennbar. Dr. Steward nickte resigniert; sein Blick war noch immer unverwandt auf seine Nichte gerichtet.
„Nun kommt schon, Missy!“, drängte Thunder zum wiederholten Mal; seine Stimme war zu einem ungehaltenen Flüstern zusammengeschrumpft. Gwyn stellte zu ihrem Vergnügen fest, dass er sich sehr beherrschen musste, um eine möglichst ruhige Stimme zu wahren.
Auch Gray, der auf der letzten Sprosse der Webeleinen stand, hielt Gwyn einladend die Hand entgegen, hielt sich aber ansonsten aus der Diskussion heraus. Harry Gray, ein gutmütiger Seemann mittleren Alters, der schon sein halbes Leben auf Bootsdecks verbracht hatte, hielt es für klüger sich nicht in diese Situation einzumischen.
„Larsen, Moody, helft euren Kameraden!“, befahl Wilde barsch; ein Anflug von Ungeduld war deutlich in seiner Stimme zu erkennen. Die beiden angewiesenen Seeleute reagierten sofort.
„Missy“, zischte Thunder durch seine zusammengebissenen Zähne drohend und trat einen Schritt auf sie zu. „Ich möchte mich nicht noch einmal wiederholen müssen. Gebt mir Eure verfluchte Hand!“
„Ich möchte mich auch nicht noch einmal wiederholen, Mr. Thunder. Ich brauche keine Hilfe!“, entgegnete Gwyn frech und trat einen Schritt zurück auf die Rah, den Oberbalken des Großsegels, während sie sich an einem Seil festhielt. Jack wurde blass.
„Missy, ich bitte Euch. Rührt Euch nicht. Bleibt wo Ihr seid!“
Gwyn sah Thunder verständnislos an. Sie warf einen Blick auf das Deck. Auch aus dieser Höhe konnte sie erkennen, dass ihrem Onkel alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
Erst jetzt bemerkte sie die beiden Matrosen, die ebenfalls zu ihrer Hilfe geschickt wurden.
Gwyn verdrehte die Augen und warf einen weiteren, prüfenden Blick nach unten auf das Bootsdeck, wobei sie gedankenversunken an ihrer Unterlippe kaute. Dann griff sie kurzentschlossen nach einem anderen, scheinbar losen Seil und ließ sich fallen.
„Missy!“, japste Thunder, die Augen vor Schreck weit aufgerissen, als er versuchte, noch nach ihr zu greifen. Gray war starr vor Schreck.
Auch die Besatzung an Bord hielt den Atem an. Sogar Kapitän Wilde schien schockiert.
Das Mädchen kreischte überdreht. Im letzten Augenblick, bevor sie Offizier Alester umgerempelt hätte, ließ Gwyn das Seil los. Sie fiel in die Arme des Offiziers. Der Mann schien ebenso verwirrt wie Gwyn selbst.
„Geht es Euch gut, Miss?“, fragte er schließlich und trat mit einem unbeholfenen Blick einen Schritt zurück. Gwyn nickte benommen, dann schlich sich ein amüsiertes Lächeln ob der Absurdität des soeben Geschehenen auf ihre Lippen, das sie nicht verbergen konnte.
Dr. Steward war neben seine Nichte getreten und legte ihr den Arm um die Schulter. In seinem Gesicht spiegelten sich Vorwurf und Erleichterung.
Die ganze Mannschaft beobachtete die beiden Passagiere interessiert. Als Wilde jedoch Stewards Gesichtsausdruck bemerkte, rief er die Männer im scharfen Befehlston zur Ordnung.
„Gwyn, wie kommst du nur immer auf solch absurde Ideen?“, fragte ihr Onkel anklagend nachdem alle Besatzungsmitglieder wieder an die Arbeit gegangen waren, während er seine Nichte vorsichtig zur Reling führte.
„Wenn dir etwas passiert wäre? Nicht auszudenken! Was hattest du eigentlich gedacht dort oben zu finden, hm?“
„Ich dachte von dort hätte man einen guten Ausblick. Kapitän Wilde sagte doch, dass wir bald ankommen. Außerdem ist Thunder auch immer da oben“, erklärte Gwyn etwas kleinlaut.
„Es ist die Aufgabe von Mr. Thunder Ausschau zu halten und nicht deine.“
„Ja, aber…“, wollte Gwyn sich verteidigen, doch ihr Onkel unterbrach sie: „So etwas gehört sich nicht für eine Dame.“
Das Mädchen schüttelte kaum merklich den Kopf und lehnte sich über die Reling, um die Wellen, die am Rumpf des Schiffes brachen, zu beobachten.
Ihr Onkel trat langsam neben sie und legte ihr sanft seinen Arm um die Schulter.
„Ich will keine Dame der Gesellschaft werden“, protestierte Gwyn, nachdem sie sich seufzend wieder ihrem Onkel zuwandte, und schob in kindhaftem Trotz ihre Unterlippe vor.
„Nun, ich glaube nicht, dass du dich dagegen wehren kannst.“
"Ich werde es zumindest versuchen! Onkel, auch wenn ich noch nicht all zu sehr in die Gesellschaft eingebunden werde, sehre ich mein Leben vor, als hätte ich es bereits hinter mir. Eine schier unendliche Aneinanderreihung von Banketts und Teepartys.