Der Schrei des Subjekts. Franz Josef Hinkelammert

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Der Schrei des Subjekts - Franz Josef Hinkelammert

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Tempels war der Tempel weiterhin auch das Gotteshaus der Christen, weil er das Gotteshaus einer gesetzlich begründeten Nation war. Er war es, auch wenn die Christen bereits eine eigene Identität entwickelten und ihre Gegenwart nur ertragen wurde. Jetzt hingegen bricht ein ernsthafterer Konflikt auf zwischen Christen und Juden und das Wort Juden bezieht sich immer mehr auf die Anhänger der jüdischen Religionsgemeinschaft. Die Christen verlieren ihre jüdische Identität, auch wenn sie aus der jüdischen Tradition kommen. Das Evangelium des Johannes macht diese Situation gegenwärtig und geht von ihr aus. Es richtet sich an Christen, die jetzt von den Juden getrennt sind, seien diese Christen nun von jüdischer Herkunft oder nicht. Sein zentrales Problem aber ist nicht etwa, die Beziehung zu den Juden der Synagoge zu interpretieren, sondern die Stellung dieser Christen - und ihr Verhältnis zu den Juden - innerhalb des römischen Imperiums. Das Evangelium des Johannes erzählt die Geschichte Jesu, die in einem jüdischen Palestina vor sich geht, das einen autonomen Staat hat, um von da aus zu Christen zu sprechen, die im römischen Imperium leben ohne irgendeine Vermittlung irgendeines jüdischen, autonomen Staates. Indem es über das Leben Jesu in Palestina spricht, muß es gleichzeitig, wenn auch verschlüsselt, über das Leben dieser Christen in Teilen des Imperiums sprechen, die wenig mit dieser Geschichte zu tun haben oder sie vollends verloren haben. Dies gibt in diesem Evangelium eine besondere Wichtigkeit der Figur des Pontius Pilatus, denn hier spitzt sich die Beziehung Jesu und des Sanhedrins zum Imperium zu.

      Nun ist der Text des Evangliums des Johannes ein geschriebener Text. Daher kann man seine wörtliche Darstellung nicht mehr ändern. Dennoch ändern auch diese Texte im Laufe der Geschichte ihre Bedeutung.

      Dies kann sehr einfache Gründe haben. Der Text stand nicht immer wörtlich fest, sondern erst von seiner Kanonisierung an. Immer gibt es daher eine Zeit, in der sie umgeschrieben wurden. Es gibt keine ursprünglichen Manuskripte. In einer Zeit, in der das Material, auf dem der Text geschrieben steht, nur sehr begrenzte Zeitdauer hat wie das beim Papyrus der Fall ist, wird der Text uns in Form von Kopien des Originals übermittelt, die selbst geschriebene Texte sind. Der Kopierer kann den Text ändern oder sich beim Kopieren irren. Er kann auch Einschübe machen, die vom geschrieben Manuskript her nicht erkennbar sind, wenn das Orginal, das kopiert wird, nicht erhalten ist. Man braucht dabei keinerlei Absicht der Fälschung zu unterstellen. Der Kopieren kann das Manuskript ändern, weil es es verbessern oder verständlicher machen will. Aber immer wird es seine eigene Interpretation des Textes sein, die darüber entscheidet, welcher Einschub den Text verbessert und welcher nicht. Es gibt nur geringe Möglichkeiten, solche Veränderungen zu entdecken, solange man nicht vorhergehende Originalmanuskripte findet. Man kann Spuren solcher Änderungen natürlich manchmal feststellen. Eine Änderung des Schreibstils kann darauf hinweisen. Aber auch der Gesamtzusammenhang des Textes kann zeigen, daß bestimmte Stellen des Textes im Widerspruch zu diesem Gesamtzusammenhang stehen und daher spätere Einschübe sein können. Aber alles dies bleibt unsicher, denn auch das, was wir den Gesamtzusammenhang des Textes nennen können, ist selbst wieder eine Interpretation des Textes selbst. Solche Einschübe können auf die Bedeutung des Textes Einfluß gewinnen, auch wenn sie den Text nicht als Sinnzusammenhang zerstören können.

      Es gibt aber eine andere Änderung des Textes, die viel wichtiger ist als irgendwelche teilweisen Einschübe. Es handelt sich um Änderungen des Sinnzusammenhangs des gesamten Textes. Jeder Text ist ein Sinnzusammenhang auf der Basis von Worten, die eine Bedeutung haben. Auch wenn es unmöglich ist, die wörtliche Gestalt des Textes zu verändern - zumindest wenn es sich um einen geschriebenen Text handelt - so kann der Sinnzusammenhang des Textes sich ändern in dem Grade, in dem die Worte ihre Bedeutung ändern, die dem Text zugrundeliegen. Im Laufe der Geschichte ändern Worte ihre Bedeutung. Ihre Bedeutung kann auch bewußt verändert werden, um den Sinnzusammenhang eines Textes zu beeinflussen, der als geschriebener Text nicht änderbar ist. Daher verändert sich im Laufe der Geschichte der Sinnzusammenhang, der durch den Text wiedergegeben wird. Der Text kann, ohne sich als Text zu verändert, heute etwas ganz anderes bedeuten als er gestern bedeutet hat. Wenn die alte Bedeutung der Wortee verloren geht, ändert sich die Bedeutung des Textes als Sinnzusammenhang, auch wenn er wörtlich der gleiche bleibt. In einem solchen Prozeß kann die Bedeutung des Textes sogar in ihr Gegenteil umschlagen, selbst ohne daß dies das Ergebnis irgendeiner Absicht ist, sei sie eine schlechte oder eine gute. Will man jetzt den ursprünglichen Sinn des Textes muß man die ursprüngliche Bedeutung der Worte wiedergewinnen, aus denen sich der Text zusammensetzt.

      Heilige Texte haben natürlich genau dasselbe Problem der Ambivalenz. Auch sie sind in jedem Moment bedeutungsambivalent und auch sie verändern im Laufe der Geschichte ihre Bedeutung als Sinnzusammenhang. Es gibt keine eindeutigen Texte. Folglich gibt es auch keine “wörtliche” Interpretation des Textes, die eindeutig wäre und die über jeden Zweifel erhaben wäre. Dies verwirrt gerade dann, wenn es sich um Heilige Texte handelt, die als unumstößlich gültig betrachtet werden. Von solchen Texten nimmt man an, daß sie schlechterdings die Wahrheit sagen. Aber wenn jeder Text ambivalent ist, welche Version des Textes ist dann die wahre? Über diese Frage kann nicht der Text entscheiden, aber auch nicht ein neuer Text, der die angeblich richtige Version bezeichnet. In bezug auf Heilige Texte werden dann Autoritäten eingesetzt, die zu entscheiden haben, welche Version des Textes die wahre ist. Aber für diese Entscheidung gilt dann wieder dasselbe: auch sie ist ambivalent, denn auch sie mündet in einen Text ein. Dies ist dann das Problem eines jeden Anspruchs auf Unfehlbarkeit. Wenn jeder Text ambivalent ist, so ist es der für unfehlbar gehaltene Text auch. Daher kann nie ein Text unfehlbar sein, denn die Voraussetzung eines unfehlbaren Textes ist eine unfehlbar eindeutige Sprache. Auch wenn diese Autorität die unfehlbare Wahrheit weiß, kann sie sie nicht sagen. Folglich kann sie sie auch nicht haben. Diese Eindeutigkeit gibt es nicht, denn nicht einmal formalisierte Sprachen haben nie diesen Grad der Eindeutigkeit.

      Die Änderung des Textes als Sinnzusammenhang ist in der Geschichte sicher unvermeidbar. Es entsteht dann der Versuch, den ursprünglichen Sinn des Textes zurückzugewinnen. Aber auch dieser Versuch bleibt zweifelhaft. Es gibt keinen Grund dafür, zu sagen, daß der historisch ursprüngliche Sinn eines Textes der wahre Sinn ist. Der wahre Sinn könnte auch später erst entdeckt worden sein. Möglicherweise hat der Text überhaupt keinen ursprünglichen Sinn in dieser begründenden Bedeutung. Im Text selbst aber können wir solch eine ursprüngliche Bedeutung ganz sicher nicht finden. Wenn der Text ambivalent ist, dann sind alle möglichen Interpretationen eben von Anfang an in ihm enthalten, auch wenn man sie noch nicht weiß. Es ist dies wie die Frage nach der wahren Absicht des Autors bei der Verfassung eines Textes. Es ist zweifelhaft, daß der Autor eine wahre Absicht überhaupt hat, und wenn er sie hat, ist sie für die Bedeutung des Textes letztlich irrelevant und vorwiegend ein Interesse für Biographen.

      Nimmt man dies alles zur Kenntnis, dann scheint die Interpretation des Textes ein verlorenes Unternehmen. Tatsächlich ist es wie im Falle der Ambivalenz bestimmter Zeichnungen. Man hat eine Ente gezeichnet die, wenn man sie etwas anders betracht, ein Kaninchen ist. Je nach dem Wechsel unserer Position sehen wir eine Ente oder ein Kaninchen. Wir können aber nicht sagen, ob die Zeichnung nun die einer Ente oder eines Kaninchens ist. Auch wenn wir jetzt wissen, daß der Zeichner ursprünglich eine Ente gezeichnet hat und vom Kaninchen nichts gewußt hat, so hilft uns das für die Entscheidung überhaupt nicht. Die Ente ist dann der ursprüngliche Sinn, aber dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß die Zeichnung auch ein Kaninchen zeigt, wenn wir sie nur aus der entsprechenden Perspektive betrachten.

      Dennoch ist die Interpretation des Textes keineswegs ein verlorenes Unternehmen. Der Text ist ambivalent, und häufig kann er sogar gegensätzlich und daher als Umkehrung gelesen werde. Er besagt dann das eine und auch das Gegenteil. In diesem Sinne widerspricht er sich dann selbst. Aber er ist deshalb nicht beliebig. Das ist auch wie bei der Ente und dem Kaninchen. Wir sehen eine Ente und dann ein Kaninchen. Aber wir können die Zeichnung betrachten wie wir wollen, wir werden keinen Elephanten entdecken. Der Text, auch wenn er einen doppelten Sinn hat oder mehrsinnig ist, ist dennoch nicht beliebig. Er enthält Optionen, aber nicht alles mögliche ist eine Option innerhalb des Textes. Der Text öffnet einen Raum von Optionen, aus dem andere Optionen ausgeschlossen sind. Diese Optionen aber sind nicht notwendig graduale Optionen. Sehr viel wichtiger sind die sich gegenseitig ausschließenden Optionen,

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