Der Schrei des Subjekts. Franz Josef Hinkelammert
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Gerade in der jüdisch-christlichen Tradition gibt es eine Fülle von Beispielen für diese Umkehrungen oder Inversionen ihres Sinnzusammenhanges, die diese Texte durchmachen und die innerhalb von Texten stattfinden, die ihrem Buchstaben nach völlig unverändert bleiben. Die Tatsache, daß zwei sich widersprechende Versionen im gleichen Text enthalten sind, bedeutet allerdings keineswegs, daß beide Versionen gleichberechtigt sind und die gleiche Lgitimität haben. Es gibt ein Wahrheitskriterium. Dieses aber liegt nicht im Text, sondern geht ihm voraus. Nur weil es dieses Wahrheitskriterium gibt, entstehen zwei sich widersprechende Versionen. Dieses Wahrheitskriterium ist das Opfer. Deshalb ist die Version des Isaakopfers, in der Abraham sich dem Gott, der das Opfer seines Sohnes fordert, widersetzt, die wahre Version, in der Abraham den Gott Abrahams entdeckt und achtet, der der Gott des Geopferten ist. Sie ist höchstwahrscheinlich auch die ursprüngliche Version. Aber sie ist nicht wahr, weil sie die ursprüngliche ihrer Genesis nach ist, sondern sie ist die ursprüngliche, weil sie wahr ist. Die entgegengesetzte Version, in der Abraham seinen Glauben dadurch beweist, daß er bereit ist, seinen Sohn zu opfern, ist falsch. Auch wenn sie den Text nicht ändert, ist sie ein Umkehrung. Als Text enthält dieser Text immer noch die Wahrheit. Aber sie ist verneint Es ist die Wahrheit der Orthodoxie, die zwar die Wahrheit hat, sie aber in der verneinten Form gefangen hält. Diese Orthodoxie benutzt den Text so, daß die Wahrheit, die er enthält, verneint wird. Im Namen des Textes wird die Wahrheit des Textes unterdrückt. Die Orthodoxie ist das Gefängnis der Wahrheit. Schon Thomas von Aquin sagt darüber: Was nützt es dem Menschen, wenn er die Wahrheit hat, aber in einem leeren Kopf? In Wirklichkeit aber ist es schlimmer: was nützt es dem Menschen, wenn er die Wahrheit hat, sie aber nur als verneinte Wahrheit mitschleppt. Die Wahrheit aller Erkenntnis liegt nicht in der Erkenntnis. Sie ist ein Weg der Befreiung des Opfers vom Opfer.
Diese Umkehrungen eines Sinnzusammenhanges können natürlich erleichtert werden durch Übersetzungen von einer Sprache in die andere, hängen aber keineswegs davon ab. Dennoch erhöht jede Übersetzung die Ambivalenz eines Textes. Der Text, der als solcher schon ambivalent ist, bekommt durch die Übersetzung neue Ambivalenzen: traductor - traidor. Der Übersetzer ist Verräter, aber er ist es nicht notwendig seiner Absichten wegen, sondern einfach deswegen, weil es nie Worte derselben Bedeutungsbreite in den verschiedenen Sprachen gibt. Daher sind die Umkehrungen der Sinnzusammenhänge damit leichter zu bewerkstelligen. Es gibt sehr offensichtliche Beispiele. So wurde in den letzten Jahrzehnten der Sinnzusammenhang des Pater Noster durch Rückgriff auf Übersetzungen verändert. Der alte Text lautet: Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unsern Schuldnern vergeben haben. Er wurde ersetzt durch: Vergib uns unsere Beleidigungen, wie auch wir denen vergeben, die uns beleidigt haben. So erscheint dann der ursprüngliche griechisch geschriebene Text in zwei sich widersprechenden Übersetzungen, die beide behaupten, den Sinn des Originals wiederzugeben. Das Original als Text wird daher nicht verändert. Aber in diesem Fall ist der Mechanismus außerordentlich transparent und es ist leicht, die zweite Übersetzung als Fälschung zu entlarven. Dennoch bleibt die Analogie mit den vorhergehenden Beispielen erhalten.
Diese Umkehrungen des Sinnzusammenhangs der christlichen Mysterien und Lehren geschehen vom ersten Jahrhundert an, aber sie brauchen viele Jahrhunderte, um sich durchzusetzen.Sie verwandeln ein Christentum, das vom Standpunkt des Armen, des Ausgeschlossenen und des Opfers her entstanden war, in ein orthodoxes Christentum, das vom Gedsichtspunkt der Macht her denkt. Der Weg des Christentum an die Macht und zum christlichen Imperium bezieht sich also nicht einfach auf den Zugang zur politischen Macht, sondern verwandelt das ganze Christentum von seinem Innern her, indem es die christlichen Mysterien und Lehren umkehrt.
Innerhalb dieser Umkehrung der christlichen Vorstellungen ist die Bedeutung der griechisch-römischen Philosophie, insbesondere des Platonismus und der Stoa, zu suchen. Diese Philosophie denkt ganz ausschließlich von der Macht her. Sobald das Christentum sich auf die Bekehrung des Kaisers und daher der Macht konzentriert, kehrt es sich um. Der Konflikt von Christentum und Imperium hört auf, und die griechisch-römische Philosophie gibt jetzt die begrifflichen Mittel, um diese Umkehrung durchzuführen. Es wird nicht etwa platonisch, sondern integriert den Platonismus in dieser seiner Umkehrung ins Gegenteil des Sinnzusammenhangs der christlichen Botschaft. Diese gibt weiterhin den kategorialen Rahmen des Denkens an, aber seine Umkehrung ins Gegenteil findet durch Rezeption der griechisch-römischen Philosophie statt. Deshalb wird in dieser Umkehrung das griechisch-römische Denken ebenfalls ganz radikal verändert.
Es ist dieses Christentum, das seine Umkehrung durchführt, indem es eine antijudaische Lektüre seiner Heiligen Schriften durchführt. Die christlichen Schriften sind so strukturiert, daß ihre Umkehrung als Sinnzusammenhang die die Entwicklung einer antijudaischen Interpretation seiner Schriften zumindest fördert. Diese Tatsache ist besonders im Evangelium des Johannes sichtbar.
Diese Fähigkeit der christlichen Mythen und Lehren, ins Gegenteil umgekehrt werden zu können, finden wir ganz ebenso in den jüdischen Mythen und Lehren. Dies erklärt sich aus der gemeinsamen Geschichte des Christentums und des Judentums. Umso mehr fällt auf, daß die Mythen der griechischen Tradition nicht diese gleiche Dimension der möglichen Umkehrung haben. Daher wird man nur schwer Beispiele solcher Umkehrungen im griechischen Denken finden. Die griechischen Mythen und das entsprechende Denken gehen direkt von der Macht aus und denken diese Macht, sodaß die Möglichkeit ihrer Umkehrung von vornherein ausgeschlossen wird. Auch diese Texte sind natürlich ambivalent wie jeder Text. Aber ihre Ambivalenz ist linear und gradweise.
Aus diesem Grund war wohl das Christentum für das griechisch-römische Denken unüberwindbar. Diesem Denken fehlte eine Dimension, um überhaupt antworten zu können. Es wurde schlechthin überrollt. Aber es gab eine Rückgewinnung, die innerhalb der christlichen Kategorien stattfand durch die Umkehrung des Christentums in sein Gegenteil, sodaß jetzt auf eine völlig neue Art wiederum ein Sinnzusammenhang entstand, der aufs neue von der Macht als letzter Instanz ausging. Es ist aber gerade dieses von der Macht her denkende Christentum, das mit seinem kategorialen Rahmen alle bisherige Macht in allen ihren Dimensionen neu strukturiert und das damit eine Machtposition entwickelt, die mehr Macht zu entwickeln vermochte als alle vorherige Macht. Aus dieser neuen Machtkonstellation entsteht die Moderne, die weiter von ihr geprägt ist trotz aller ihrer Säkularisationen und die schließlich die ganze Welt erobert. Keine Macht hat widerstehen können. Sowohl der Liberalismus als auch der Sozialismus haben noch diese Wurzel. Auf diese Weise konnte das Christentum, als von der Macht her denkende Orthodoxie, zuerst als imperiales Christentum, danach in seinen Säkularisierungen, die gesamte Welt erobern. Diese Säkularisierungen sind natürlich nicht als solche christlich und entstehen häufig gerade in Auseinandersetzungen mit dem Christentum. Sie behalten aber den vom Christentum geschaffenen universalen kategorialen Rahmen bei, in dem der Arme, der Ausgeschlossene und der Geopferte das Wahrheitskriterium ist. Dies ist ganz unabhängig davon, ob dies nun in seiner ursprünglichen Form geschieht oder in seinen Umkehrungen ins Gegenteil. Ganz ausschließlich in diesem Sinne handelt es sich um Säkularisierungen des Christentums. In säkularisierter Form wird dieser kategoriale Rahmen weitergeführt so wie die Säkularisierung grundlegende Mythen, die aus dem Christentum stammen, in säkularisierter Form weiterführt. Sie löst nicht die Mythen auf, sondern verwandelt ihre Form, indem sie sie säkularisiert.
Vor wenigen Jahren hat Camdessus, Generalsekretär des Internationalen Währungsfonds, eine solche Umkehrung durchgespielt. Camdessus beschäftigt sich nicht nur mit Geld, sondern auch mit Theologie. In einem Vortrag über “Der Markt und das Reich Gottes” entwickelt er eine Umkehrung der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Als Text übernimmt er sie fast vollständig, kehrt sie aber in ihr Gegenteil um durch die Veränderung der Bedeutung einiger zentraler Worte. Er geht dabei von der Option für die Armen aus, von der die Befreiungstheologie spricht und verwandelt sie in eine Option für die Reichen, denn den Armen kann es nur besser gehen, wenn es den Reichen besonders gut geht. Will man also realistisch etwas für die Armen tun, dann muß man den Reichtum der Reichen fördern. Aus der Option für die Armen wird dann die Option für die strukturellen Anpassungen der IWF.2
Diese Umkehrungen sind natürlich nicht auf religiöse Texte beschränkt, denn sie beziehen sich