Wien!. Till Angersbrecht

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Wien! - Till Angersbrecht

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seinem Fenster auf die Straße, dann kamen entweder zehn Juden vorbei oder keiner. Wenn du mich fragst, ich glaube, dass es sich mit deinen zwei Gäulen auf gleiche Weise verhält.

      Wie immer spreche ich absichtlich von Gäulen, um Liesl ein wenig zu reizen. Ihre Augen blitzen dann auf, manchmal bebt ihre Lippe. Dann sieht sie so schön aus, dass ich sogar in Gefahr bin, mich doch noch in sie zu verlieben. Doch diesmal lässt sie sich nicht provozieren.

      Willst Du mir etwa einreden, dass alles nur Zufall sei?

      Im Gegenteil, erwidere ich lachend. Die beiden Gäule wurden einfach mitten auf dem Gürtel vom Gesetz der Serie heimgesucht. Einmal verrückt, das war jedem von ihnen zu wenig, also sind sie beide gleichzeitig verrückt geworden.

      Sie gibt mir mit der Hand einen recht forschen Klaps auf die Wange.

      Ich weiß schon, über Ernstes ist mit Dir nicht zu reden. Übrigens auch nicht mit der Polizei. Die haben erst den Kopf geschüttelt, dann haben sie nur noch mitleidig gelächelt. Für schwarze Magie fühle die Polizei der Stadt Wien sich leider nicht zuständig, da solle ich mich doch besser an einen gewissen – wie heißt er noch? – einen gewissen Forchtel wenden.

      Liesl war wieder einmal von mir enttäuscht, denn damals habe ich über die Angelegenheit ja noch gespottet. Heute gestehe ich reumütig ein, dass ich mich damals zu Unrecht lustig machte. Ich hätte gewiss nicht gelacht, nein, ich wäre blass geworden, wäre mit Fragen auf sie eingestürmt, hätte ich gewusst, was alles noch kommen sollte. Ich bin eben nicht Dombrowsky, der glücklose Leichenbeschauer. Der wäre sofort stutzig geworden, wenn er vom Gürtel hört.

      Bevor ich ihre Wohnung verlasse – mittlerweile ist es zwölf Uhr nachts geworden - fragt Liesl mich beiläufig, ob mir der Name ‚Charmefabrik’ etwas sagt?

      Charmefabrik?, entgegne ich. Du willst doch hoffentlich nicht sagen, dass ihr jetzt auch noch den Charme am Fließband erzeugt, wie vorher schon eure Mozartkugeln. Na, bravo!

      Sei still, du bist ein Piefke und als solcher kannst du durchaus etwas Zuckerguss von unserem Wiener Charme vertragen. Der geht dir nämlich so ziemlich ab.

      Widerspruch liegt mir auf der Zunge. Charmefabrik - wie blödsinnig dieses Wort. Aber irgendetwas reizt mich denn doch.

      Das ist Wien, raunt mir eine innere Stimme zu. In Wien ist alles anders, selbst der Blödsinn. Mir schmecken ja auch die Mozartkugeln. Ohne weiter nachzudenken, gebe ich meine Einwilligung, sie bei Gelegenheit dorthin zu begleiten. Sie steckt mir eine Visitenkarte des Vereins in die Jackentasche. Mit flüchtigem Blick lese ich darauf: ‚Elmayers Verein zur Pflege der guten Umgangsformen und der echten Wiener Höflichkeit - kleiner Festsaal im Palais Ferstel’.

      Doch dann erstarre ich und muss mich zusammenreißen, um mir nichts anmerken zu lassen.

      Du solltest unbedingt einmal kommen, sogar eine Schauspielerin vom Burgtheater, Elisabeth Koschinsky, hat uns kürzlich besucht.

      Todessehnsucht

      Von Elli weiterhin keine Nachricht, mein Kopf und die Tage sind blank von ihrem Schweigen. Neuerlich greift nun auch die ‚Presse’ den Klatsch um den inzwischen auch dem Leser sattsam bekannten Cornelius Forchtel auf. Während einer in der Lobby des Imperials am Ring abgehaltenen Pressekonferenz habe der Handaufleger für Aufruhr gesorgt, weil er eine Zeile aus den Prophezeiungen des Nostradamus auf Wien bezieht. Eine neue Belagerung stehe bevor, orakelt Forchtel.

      Empört schmeiße ich das Blatt auf den Boden. Wie ist es nur möglich, dass unser angeblich so fortschrittliches Jahrhundert solchen Dunkelmännern immer noch Auslauf und Redezeit gewährt, Leuten, die schwachen Köpfen den kläglichen Rest von Vernunft austreiben? Wie stellt der Mann sich denn eine solche Belagerung vor? Sollen das vielleicht himmlische Heerscharen sein, die, mit Speeren und Steinschleudern bewaffnet, Wien von oben her überfallen?

      Es ist Zeit, dass ich selbst zur Feder greife. Ich nehme mir vor, einen boshaft gewürzten, einen die Wiener Theaterseele mitleidslos sezierenden Aufsatz zu schreiben, in dem ich mich über die unfassbare Leichtgläubigkeit der Einheimischen mokiere. „Wien ist anders, aber warum?“ soll er heißen.

      Natürlich ist jede Stadt anders; Wien genauso wie alle übrigen. Geh nach Paris, nach Chongqing, New York, Vancouver oder Kapstadt. In jeder sind die dort lebenden Menschen von ihrer vermeintlichen Einzigartigkeit überzeugt. Alle wollen ja heutzutage etwas ganz Besonderes sein – was ist daran originell? Oder bewundert man etwa mich, Carsten Reddlich, dafür, dass mein Genotyp im ganzen mich umgebenden Universum nur ein einziges Mal existiert? Eher wäre es ein Wunder, wenn ein Ei in jeder Hinsicht so wie das andere wäre, Carsten Reddlich und Du, lieber Leser, bloße Kopien ein und desselben Originals und jede Stadt ein bloßer Abklatsch aller übrigen Städte.

      Das wäre allerdings ein wahrhaftiges Wunder, doch darüber werde ich kein Wort verlieren. Ich soll Vorurteile bedienen, und zwar so, dass die Leute ihren Spaß daran haben. Im Grunde bin ich nur ein bezahlter Federfuchser oder, da ja keiner von uns mehr Federn verwendet, eine Art Tastenlakai. Was man von mir erwartet, ist eine gewisse Apartheit des Stils – damit man die Marke Reddlich auf Anhieb erkennt - durchmischt mit Witz und Ironie, wozu dann noch eine wohldosierte Prise an Tatsachenkenntnis hinzukommen darf, aber, bitte schön, bescheiden im Ausmaß, damit der Leser sich nicht überfordert fühlt!

      Ich bin ein Tastenlakai, keine Frage, aber wartet nur, für diese Sklavenarbeit werde ich mich noch hinterrücks an euch rächen! Während ich meinen Artikel mit einer Handvoll gefälliger Lügen garniere - wie ihr es euch nun einmal gefällt - sammle ich zur gleichen Zeit allerlei Notizen in meinem Tagebuch. Ja, und darin halte ich euch die Wahrheit entgegen – nichts als die lautere, böse, schmerzhafte Wahrheit. Auf den eleganten Stil will ich in meiner Chronik verzichten, Witz findet ihr nur, wenn die Dinge selbst einmal witzig sind, aber Ironie, das ja. Ironisch sollte man immer sein, sonst wachsen einem die nackten, hässlichen und bösen Tatsachen über den Kopf und man fühlt sich wie auf einer Müllhalde ausgesetzt. Nein, ohne Ironie geht es nicht, sonst wird man von den platten Tatsachen erdrückt und erschlagen. Von diesem Forchtel zum Beispiel, der die Belagerung Wiens prophezeit.

      Zieh hin, hatte mir mein Chefredakteur mit spöttischem Lächeln eingeschärft, bevor ich nach Wien aufbrach, zieh hin, als stände dir eine ethnologische Expedition ins Amazonasbecken bevor. Betrachte die Leute genauso, als wären sie Eingeborene mitten im Urwald oder meinetwegen auch auf einer soeben entdeckten pazifischen Insel.

      Hier, fügte er hinzu, zu diesem Thema habe ich damals, als ich selbst dort kurze Zeit zu Besuch war, einige Zeilen geschrieben, die Du als Wegzehrung mitnehmen solltest, um die Stadt nicht ganz auf nüchternen Magen zu genießen. Er drückte mir ein Blatt in die Hand, das ich in einer Mappe verstaute und jetzt zum ersten Mal wieder daraus hervorziehe. Vielleicht hilft es mir ja gegen Forchtel.

      „Was jeder Deutsche sehr schnell entdeckt, ist der markante Inselcharakter der Stadt. Wien ist eine Insel, ringsherum von barbarischen Bergvölkern umgeben, deren Sprache für unsereinen so gut wie unverständlich ist. Fast alle Kultur des großen Österreich stammt von dieser Insel, alle höhere Lebensart und natürlich alle großstädtische Arroganz, auch gegenüber uns Deutschen, die sich in langer und mühsamer Mimikry üben müssen, um von den Einheimischen als ebenbürtig bewertet zu werden. Denn für den Durchschnittswiener bleibt der Deutsche immer ein Piefke, da kann er sich noch so viel Mühe geben. Selbst wenn er beflissen Samstag statt Sonnabend sagt und Pointe wie Pöinte ausspricht, wird man ihn immer spüren lassen, dass er ein Eindringling ist – ein Zuagereister, wie sie das nennen. Vor allem macht man ihm klar, dass er niemals in die labyrinthischen Abgründe ihrer Seele eindringen wird, die sie sich wie ein Schatzhaus vorstellen, das allenfalls ein Ali Baba

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