DAS GESCHENK. Michael Stuhr
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„Ihr seid gemein!“, quengelt Didier. „Nur bis zum Supermarkt. Da würde doch keiner was sagen.“
Ich überlege, ob ich antworten soll, aber es ist mir einfach zu heiß dazu. Ich bin froh, dass wir bald da sind, auch wenn ich mich auf diese Ferien gar nicht freue. Eigentlich wollte ich dieses Jahr das erste Mal mit meinen Freundinnen zusammen in Urlaub fahren. Aber meine Eltern meinten, ich solle doch noch ein Mal mit ihnen mitkommen, damit Didier nicht ganz allein im Zelt schlafen muss. Er sei doch noch so klein und hätte doch noch Angst so ganz allein im Dunkeln. Nächstes Jahr hätte sich das dann ganz bestimmt ausgewachsen. Toll! Und wenn nicht? Was soll es wohl ausmachen, ob er elf oder zwölf Jahre alt ist?
In Gedanken fasse ich die Aussichten auf diesen Urlaub zusammen: Ich würde mit meinen siebzehn Jahren mit meinem kleinen Bruder im Kinderzelt schlafen, den größten Teil der Zeit das machen müssen, was meine Eltern wollen und mich ansonsten tödlich langweilen. Mein einziger Trost ist, dass wenigstens ein paar meiner Freunde aus den vergangenen Jahren dieses Jahr auch noch mal mit ihren Eltern mitfahren. Schön, dass es facebook gibt. Manchmal kann es die Laune echt verbessern.
Fleur ist schon seit einer Woche hier und Pauline sogar schon seit vierzehn Tagen. Na, dann ist es wenigstens nur die letzte Woche, in der ich allein bin. Was für ein Glück, sonst würden die ganzen drei Wochen in endloser Langeweile und Eintönigkeit dahin ziehen.
So sitze ich da, schmelze in der Hitze vor mich hin und starre geist- und sinnfrei aus dem Fenster. Ich bin froh, als wir endlich die Abfahrt Richtung St. Maxime und Port Grimaud erreichen.
„Da hinten ist schon das Meer!“, ruft meine Mutter.
Ja, Maman, so wie jedes Jahr an dieser Stelle! Aber ich sage natürlich nichts. Jetzt dauert es wirklich nicht mehr lange. Ich versuche meine zusammen gequetschten Gliedmaßen ein wenig zu strecken.
Die Straße von St. Maxime nach St. Tropez ist, wie immer um diese Nachmittagszeit, komplett verstopft. Mühsam schleichen wir Zentimeter um Zentimeter, Stoßstange an Stoßstange voran in Richtung Campingplatz. Es riecht nach Abgasen und heißem Asphalt und nach den sich zwischen den Autos hindurchmogelnden Motorrollern. ‚Die kommen schneller voran als wir’, stelle ich neidisch fest und mir wird immer klarer, dass meine Eltern mir die blaue Elise wohl nicht ganz uneigennützig geschenkt haben. Ich bin es nämlich, die jeden Morgen durch diese stinkende Blechlawine im Slalom in den Ort fahren wird, um Baguette und frische Croissants zu holen. Oh Mann, die Aussichten werden wirklich immer toller.
Endlich erreichen wir unseren Campingplatz und finden auch einen netten Autofahrer, der uns eine Lücke lässt, um nach links abzubiegen. Wir verlassen die Küstenstraße und den Verkehrslärm.
Das erstaunt mich jedes mal wieder. Die Einfahrt zum Campingplatz ist mit hohen Pinien und Oleanderbüschen gesäumt und hinter dem Eingangstor beginnt eine andere Welt: Schattige Bäume, Büsche, Blüten, Rasenflächen und sandige Wege. Der Lärm der Zikaden verschlingt den Verkehrlärm fast vollständig.
Wie jedes Jahr haben wir rechtzeitig unseren Platz nahe am Wasser reservieren lassen.
Nachdem Papa an der Rezeption die alljährliche Begrüßungszeremonie hinter sich gebracht hat, kommt er mit unserer Chipkarte zurück, mit der man das Eingangstor Tag und Nacht öffnen kann. Nur noch ein paar Meter, dann sind wir endlich da.
Langsam fahren wir die schmalen Wege entlang zu unserem Platz. Es ist derselbe wie jedes Jahr, deswegen finden wir ihn auch problemlos. Trotzdem ist Didier ausgestiegen und macht den Führer. Er winkt nach hier und zeigt nach da und freut sich, so ein wichtiges Amt bekleiden zu können. Soll er, ich will nur noch eins: ins Wasser! Und zwar so schnell wie möglich.
Verdammt! Ich ducke mich unwillkürlich auf meinem Sitz zusammen, denn etwas hat uns erkannt und verfolgt uns, etwas, das sofort, nachdem wir das Auto verlassen haben, erbarmungslos über uns herfallen wird, etwas Grausames, schrecklich Unerbittliches, das uns nicht so schnell aus seinen Fängen lassen wird: Monsieur Bardane!
Wir sind da. Zögernd öffne ich die Tür und sehe mich vorsichtig um. Natürlich! Er kommt uns nach und ist keine zehn Meter mehr entfernt. Meine Eltern haben ihn auch gesehen und gehen schnell ein paar Schritte, um den Stellplatz zu begutachten. Oh bitte nein! Jetzt wendet er sich natürlich mir zu! An Flucht ist nicht zu denken!
„Hallo Lana!“ Ein grünes Sonnenhütchen mit spindeldürren O-Beinen, die in Sandalen mit weißen Sportsocken stecken, kommt auf mich zugewackelt. Die blaugeblümten, langen Badeshorts und den faltigen Bauch darüber übersehe ich, denn was mich bannt, ist sein Gesicht. Beschattet von seinem Hütchen leuchtet mir als erstes der goldene Eckzahn entgegen, der mich als kleines Mädchen immer so sehr erschreckt hat. Ich hatte immer Angst gehabt, er wolle mich damit beißen.
In Wirklichkeit ist Monsieur Bardane gar nicht bösartig, sondern eigentlich sogar recht freundlich und hilfsbereit. Nur, er ist einfach wie eine Klette. Deswegen nennen wir ihn untereinander auch so – Bardane. Sein wirklicher Name lautet Georges Irgendwas. Er ist Rentner und kommt eigentlich aus Orleans. Den ganzen Sommer lang lebt er aber hier auf dem Campingplatz. Alle hier nennen ihn Georges. Er ist die wandelnde Platzzeitung, gewissermaßen die Paris Match des Camping Neptune. Er weiß alles und wenn er etwas nicht weiß, kriegt er es raus. Und er ist ein Geiselnehmer! Erwischt er dich, bist du verloren! Unter einer Stunde Smalltalk, in der man mit allen Neuigkeiten, ob man sie wissen will oder nicht, bombardiert wird, kommt man bei ihm nicht weg. Und das ist genau mein Problem! Ich – will – ins – Wasser!
„Lana, hast du schon gesehen?“ Speichelfeuchte Küsschen rechts – links –rechts, leider auf die Wange und nicht in die Luft. „Das Plakat an der Rezeption? Die machen morgen am Strand einen Schönheitswettbewerb. Eine Miss-Teen-Beach-Wahl!
„Ach ja? Da geh ich doch gleich mal gucken.“ Ich will mich wegdrehen.
„Warte mal!“, stoppt die Klette mich. „ Alle Campingplätze beteiligen sich. Die ersten drei von jedem Campingplatz hier werden dann abends ins Les Sables eingeladen.“
„Wow!“ Das beeindruckt mich nun wirklich. Das LS ist die größte, bekannteste und teuerste Disco hier in der Gegend. Ich war noch nie dort.
„Pass auf!“, fordert die Klette. „Da wird dann die Teen-Miss-Port-Grimaud gewählt. Bei Champagner und Kaviar!“ Er jubelt fast und sein Mund macht schmatzende Geräusche. „Das wäre doch was für dich, so wie du aussiehst!“
Bei diesen Worten mustert Monsieur Bardane meinen Körper auf eine Art, die mir ein seltsames Gefühl verursacht. Nichts gegen neue Verehrer, aber dieses grüne Hütchen macht wirklich alles kaputt.
„Ach ja? Interessant“, stottere ich verlegen.
„Ja, nicht wahr?“, grinst die Klette. „Da fällt mir ein, dass vor vier Jahren ...“
„Monsieur Bar... äh Georges, setzten sie meiner Tochter keine Flausen in den Kopf“, mischt sich meine Mutter ein und erlöst mich damit aus meiner Geiselhaft. Arme Maman! Aber sie hat sich freiwillig in seine Fänge begeben, und er schnappt prompt zu: „Madame Rouvier! Schön, dass Sie da sind!“ Wieder wird er seine spuckenden Küsschen los. „Haben Sie schon gehört, dass im letzten Jahr, kaum dass Sie weg waren, ein Holländer einen Unfall hatte? Armer Kerl, er ...“
Nun muss Papa wohl mit Didier alles alleine aufbauen. Mir egal! Ich schnappe mir mein Badehandtuch, winke Maman kurz zu und verschwinde in Richtung