DAS GESCHENK. Michael Stuhr
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Normal, das war das Wort, um das seit jenem unseligen Nachmittag am Pool seiner Eltern all seine Gedanken kreisten. Wie oft hatte er sich gewünscht, wie ein ganz normaler Junge in irgendeiner Vorstadtsiedlung leben zu dürfen, mit Eltern, die einer normalen Arbeit nachgingen und einem ganz normalen Schulalltag. Warum hatte er nicht normal aufwachsen können: mit schlechten Schulnoten, Krach zuhause und vielleicht mit ersten, zaghaften Erfahrungen mit Mädchen, mit vierzehn oder fünfzehn? Warum klebte dieser Fluch an ihm, etwas Besonderes zu sein, sodass er bis jetzt fast wie ein Mönch oder wie ein Gefangener hatte aufwachsen müssen?
Er hatte nie eine Antwort auf diese Fragen gefunden, weil es keine Antwort gab. Er war in dieses Leben hineingeboren worden, ohne gefragt worden zu sein und jetzt musste er sehen, dass er irgendwie damit zurechtkam.
Andererseits gibt es aber kaum einen Schmerz, den man mit ein paar Millionen Dollar nicht erträglicher machen kann. Manchmal dachte er ernsthaft darüber nach, ob er wirklich bereit war, den Lebensstil, der ihm in die Wiege gelegt worden war, aufzugeben. Die Antwort war nein, denn sonst hätte er es ja spätestens jetzt tun können. Zudem hätte sich die Normalität ja auch nur auf gewisse Äußerlichkeiten beschränkt. Die Gabe, die er erhalten hatte, wäre doch geblieben. Sie war zum Fluch geworden und die Bedürfnisse, die sich daraus ergaben, hätte er nicht abstreifen können. Er war völlig davon durchdrungen und es gab nicht den Schatten einer Chance, diesen Aspekt aus seinem Leben auszuklammern.
Viel zu ernste Gedanken für einen so schönen Sommerabend! Fast gewaltsam riss er sich aus seinen düsteren Betrachtungen heraus und schaute auf das bunte Treiben, das im Restaurant herrschte: Die große Terrasse des Lokals war voll besetzt, nur hier und da waren Paare allein am Tisch. Teenies lehnten sich weit auf ihren Stühlen zurück und alberten mit ihren Freunden und Freundinnen an den Nachbartischen herum, während ihre kleineren Geschwister durch die Gänge flitzten und sich die Zeit vertrieben, bis das Essen serviert wurde.
Etwas störte das friedliche Bild: Der gutaussehende, sportliche Mann, der sich vom Strand her der Terrasse näherte, wäre für das abendliche Panorama durchaus verzichtbar gewesen. Noch war er recht weit entfernt, aber die kraftvollen Bewegungen und die für den Zeitgeschmack etwas zu langen, schwarzen Haare ließen keinen Zweifel zu.
Der Mann auf der Empore kniff die Lippen zusammen und bereitete sich auf den üblichen Schlagabtausch mit Adriano, seinem Cousin vor.
Adriano war es gewesen, der den Jungen an jenem Nachmittag, an dem das Mädchen hatte sterben müssen, ins Haus gezerrt hatte, und er war es auch gewesen, den die Familie als Wächter eingesetzt hatte, damit so etwas nie wieder vorkam. Es hatte Adriano zwar keinen Spaß gemacht, aber er hatte seine Aufgabe ernst genommen. Über zehn Jahre lang hatte der Junge kaum einen Schritt tun können, ohne von Adrianos Leuten beobachtet zu werden.
Mittlerweile hatte die Überwachung nachgelassen. Die Familie traute es ihm jetzt wohl zu, sich zu beherrschen, oder die Probleme selbst zu regeln, falls es wieder zu einem Zwischenfall kommen sollte. Trotzdem kam Adriano ab und zu vorbei, um nach dem rechten zu sehen. Er tat das bestimmt nicht freiwillig, und diese ständige Überwachung hatte im Lauf der Jahre auf beiden Seiten einen schwelenden Hass herangezüchtet. Bewachter und Wächter vertrugen sich nicht. Sie kamen einfach nicht miteinander aus.
Adriano hatte die Terrasse erreicht. Ein blondes Mädchen von etwa sechzehn oder siebzehn Jahren lief zwischen den Tischen hindurch, war etwas unachtsam und hätte ihn um ein Haar angerempelt. Ohne seinen Schritt auch nur für einen Sekundenbruchteil zu verlangsamen, nahm er das Mädchen blitzschnell bei den Schultern und stellte es einfach zur Seite. In diesem winzigen Moment hätte man sehen können, welch enorme Kraft und Reaktionsfähigkeit in diesem schlanken Körper wohnten, aber an den umliegenden Tischen bemerkte niemand etwas davon.
Das Mädchen sah Adriano einen Moment lang verwundert nach und ging dann langsam weiter.
„Diego! Was für ein Zufall!“ Adriano hatte den Tisch erreicht und schaute mit gespielter Freude auf seinen Cousin hinab. Sein Grinsen glich eher den hochgezogenen Lefzen eines angriffslustigen Hundes.
„Ja, die Welt ist ein Dorf“, grüßte Diego lahm. Er machte gar nicht erst den Versuch, Freude zu heucheln.
„Und das Dorf heißt Port Grimaud“, stellte Adriano fest und setzte sich. „Wie geht’s denn so, Kleiner?“
„Alles gut, bis eben.“
„Na, na!“, rügte Adriano. „Wer wird denn gleich?“
„Was willst du?“
„Nur mal sehen, wie es dir so geht.“
„Und? Wie geht’s mir so?“
„Wie üblich. Du kommst mir ein wenig vereinsamt vor. Du solltest dich enger an die Familien anschließen. Ein wenig Spaß haben, ein wenig Jugend genießen, du weißt schon.“
„Spaß!“ Diego spuckte das Wort aus wie eine angefaulte Traube. „Spaß im Hamsterrad! Jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr dasselbe. Ist nicht mein Ding, tut mir Leid.“
„Es ist ein wenig öde“, gab Adriano zu. „Aber du weißt, dass es sein muss, wenn man jung bleiben will.“
„Ich weiß nur, dass es nicht sein muss“, widersprach Diego. „Ihr habt alle die Wahl!“
„Richtig!“ Adriano nickte bestätigend. „Ich habe gewählt und es gefällt mir gut so. Wenn es mir mal nicht mehr gefällt, dann höre ich einfach auf damit.“
„Das sagen alle Junkies“, meinte Diego, und obwohl er sah, dass sich eine steile Falte auf der Stirn seines Cousins bildete, schob er noch nach: „Was wurde denn heute so geboten im Hamsterrad?“
„Eine Poolparty an Bord der Recife. Hernandez hatte uns eingeladen. War okay!“
„Mal wieder eine Poolparty. Wie aufregend.“ Diego hielt sich die Hand vor den Mund und täuschte ein Gähnen vor. „Und die Gäste? Alle gesund?“
„Sie werden niemals erfahren, was mit ihnen passiert ist. Danke der Nachfrage. Wir sind ja schließlich nicht so unbeherrscht, wie ein gewisser Fünfjähriger, der sich nicht unter Kontrolle hatte“, gab Adriano ärgerlich zurück.
Die Spitze glitt an Diego ab. „Du bist vielleicht nicht so gierig“, meinte er nur, „aber ...“
Adrianos Kopf ruckte herum. „Dolores hat sich im Griff!“, behauptete er mit einem grimmigen Lächeln. Er wusste genau, wohin Diego zielte. „Außerdem hat sie noch nie jemanden umgebracht.“
Diego wusste, dass das Thema seinem Cousin nicht behagte. Es hatte da mal eine Affäre gegeben. Einen Fall von plötzlicher Vergreisung im Freundeskreis der Geschwister. Ein junger Mann, der damalige Freund von Dolores, war im wörtlichen Sinn über Nacht um Jahrzehnte gealtert. Im Gegensatz zu Diego hatte sie die Sache aber erstaunlich gut weggesteckt. Nun ja, schließlich war sie auch schon ein wenig älter und viel erfahrener.
Ein etwa elfjähriger Junge kam heran und versuchte vergeblich, einen Hund anzulocken, der unter einem der Tische hastig etwas in sich