Im Himmel gibt es keine Tränen. Yvonne Tschipke
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Und alles war eigentlich wie immer …
Ich drehte meinen Kopf vorsichtig zur Seite und blinzelte im Licht der Morgensonne, die sich ihren Weg durch die hauchdünnen Gardinen in mein Zimmer bahnte, auf den Jungen neben mir.
Tom, der Traum aller Mädchen meiner Schule, lag da - in greifbarer Nähe.
Er war der unbestrittene Star der Schulfußballmannschaft. Und er war scheinbar völlig makellos, mit den blonden und stets gut gestylten Haare, dem durchtrainierten Sixpack, und selbst mit seinen großen Füßen, die da am Ende meiner Decke hervor schauten.
In diesem Augenblick war ich ganz froh, dass ich dieses Mal nicht die „One-Direction“-Bettwäsche gewählt hatte. Nein, wir kuschelten unter der New-Yorker Skyline.
Jawohl (meine innere Prinzessin verschränkte zufrieden die Arme vor der stolzgeschwellten Brust und lächelte siegessicher) - dieser Traum von einem Typen lag hier zusammen mit mir unter meiner Decke.
Und – ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen - er schnarchte wie hundert Waldarbeiter.
Vielleicht war genau das der Grund, weshalb noch nie eines der anderen Mädchen ernsthaft bei ihm landen konnte. Die Peinlichkeit, dass eines von ihnen hinter sein Schnarch-Geheimnis kommen könnte, wollte er sich anscheinend ersparen.
Nun gut, dachte ich, er hätte mich wenigstens vorwarnen können, dass er schnarchte.
Aber eigentlich machte es mir nichts weiter aus, denn ich war schon von klein auf an diese grausamste Art von Geräuschen gewöhnt. Mein Vater schnarchte in allen Facetten. Meine Mutter auch, sie gab es allerdings nicht zu und schob die Ruhestörung, die sich Nacht für Nacht ihren Weg aus dem Schlafzimmer meiner Eltern bis zu meinem Zimmer suchte, einzig und allein auf Papa.
Ich drehte mich auf die Seite und stützte meinen Kopf auf dem angewinkelten Arm ab. Einige Minuten lang ließ ich meine Blicke auf Toms Gesicht ruhen. Er sah so zahm aus, wenn er schlief. Nichts an ihm erinnerte an den rebellischen, großkotzigen Typen, der er eigentlich war. Ich hatte einmal gelesen, dass alle Menschen, selbst die widerlichsten, im Schlaf Engeln glichen. Es stimmte tatsächlich.
Toms Eltern waren reich, sehr reich. Er konnte sich das Angeben leisten. Auch wenn es oft einfach nur nervte, das war das kleinere Übel. Viel schlimmer fand ich, dass er denen, die er nicht mochte und die durch sein Akzeptanzraster fielen, keine Chance ließ, so zu sein, wie sie eben waren. Irgendwie entdeckte er immer einen Schwachpunkt, über den er herziehen konnte. Und in den meisten Fällen fiel ihm auch immer etwas Gehässiges ein, das er zu einem anderen Menschen sagen und ihn damit sehr verletzen konnte.
Aber wer weiß, vielleicht würde sich das jetzt ändern – jetzt, da wir zusammen waren. Vielleicht würde ich einen guten Einfluss auf ihn haben. Vielleicht könnte er durch mich lernen, ein besserer Mensch zu sein, der andere akzeptierte, so wie sie eben waren.
Ich streckte meinen Zeigefinger aus und strich vorsichtig über seine mir zugewandte Wange. Für einen kurzen Moment hörte das Schnarchen auf, Tom kräuselte leicht seine Nase, dann drehte er sich auf die Seite, sodass ich nun sein ganzes Gesicht vor meinem hatte - und schnarchte dann ungerührt weiter.
Ich hob die Decke ein wenig an. Etwas verlegen sah ich an unseren nackten Körpern herunter. Heute Nacht, als „es“ geschah, war es dunkel gewesen. Doch ich hatte seinen perfekten, durchtrainierten Körper an meinem gespürt.
Sein Sixpack hob und senkte sich mit jedem seiner Atemzüge. Wie konnte man in diesem Alter schon so einen Bauch haben. Logisch – immerhin war er Sportler. Etwas beschämt besah ich mir mein Exemplar. Ich war schlank, auf jeden Fall – aber von trainiert konnte nicht die Rede sein. Dort wo man bei mir definitiv einen Bauch erkennen konnte, hatten ein paar der Mädchen aus meiner Klasse einen attraktiven Hohlraum. Den trugen sie an jedem warmen Tag unter ihren bauchfreien T-Shirts spazieren und machten uns andere, die Viel-Esser und Nicht–Sportler, echt neidisch.
Tja (meine innere Prinzessin triumphierte und stieß ihre rechte Faust siegreich in die Luft), aber letzten Endes lag Tom hier mit mir - in meinem Bett, unter meiner Decke. Letztendlich war er bei mir über Nacht geblieben und hatte mich „zur Frau gemacht“.
Ich spürte, wie mein Herz zu hämmern begann. Ja, wir hatten es getan. Einfach so. Völlig ungeplant. Völlig unvorbereitet. Völlig – ich erschrak – ungeschützt?
Ich suchte mit meinen Augen hektisch das kleine Schränkchen neben meinem Bett ab und entdeckte erleichtert die kleine Folienpackung. Ich erinnerte mich jetzt auch wieder daran, wie Tom sie aus seiner Hosentasche gezogen und auf das Schränkchen geworfen hatte. Es war ein paar Mal daneben gefallen und auf dem Boden gelandet. Von Bier und Schnaps betrunken, hatte Tom leise vor sich hin gekichert, während er es immer und immer wieder vom Teppich aufgehoben und dann von neuem auf das Schränkchen gezielt hatte. Kaum zu glauben, dass er der unangefochtene Torschütze unserer Fußballmannschaft sein sollte. Okay, das Tor war ja auch geringfügig größer als mein Schränkchen und besoffen war Tom ja auch nicht, wenn er auf den Rasen lief.
Ich ließ die Decke wieder sinken und rutschte ein wenig näher an Tom heran. Ich wollte seine Nähe spüren, seine heiße Haut, seinen Atem.
Letzteres überlegte ich mir dann doch anders. Sein Nachtatem stank nach Bier, billigem Schnaps, verdautem Döner und – keine Ahnung wonach noch. Gut – jeder Mensch hatte irgendeinen Makel, selbst der perfekteste. Und Tom hatte eben zwei – er schnarchte und hatte am Morgen schlechten Atem.
Aber, sagte ich mir, man kann nicht alles haben.
Kapitel 2
Ein Klacken ließ mich aus dem Schlaf schrecken.
Ich streckte meine Arme zur Seite und reckte mich. Allem Anschein nach war ich noch einmal eingeschlafen.
Eigentlich hatte ich erwartet, dass meine Hand Toms Körper treffen und ihn wecken würde, doch ich spürte nur das noch warme Kissen, auf dem er geschlafen hatte. Ruckartig drehte ich meinen Kopf zur Seite. Der Platz neben mir war leer. Ich setzte mich abrupt auf.
Gut, vielleicht war er nur ins Bad gegangen. Auch Supertypen gingen morgens nach dem Aufwachen pinkeln. Aber der Klang, der mich geweckt hatte, ließ mich unruhig werden. Es war nämlich nicht die Tür zum Bad, die zugefallen war.
Ich konnte am Geräusch erkennen, welche der Türen unserer Wohnung geschlossen wurde. Das dumpfe „Klack“ in Verbindung mit einem leisen Scheppern war die Küchentür mit dem kleinen hölzernen Engel, den Mama vor Jahren von meiner Schwester zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte und der seitdem das ganze Jahr über wie ein friedlicher Wächter dort hing. Die Wohnzimmertür klirrte immer ein bisschen, weil das Glassegment etwas locker saß. Die Tür zum Badezimmer musste man immer ein wenig stärker ins Schloss ziehen, weil sie klemmte. Das zog meistens einen kleinen hohlen Knall mit sich. Die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern schloss sich fast lautlos mit einem leisen Schaben. Und von Pias Kinderzimmertür hörte man meist nur das Klappern der kleinen Blechschilder, die über das ganze Türblatt verteilt waren. Die Tür zu meinem Zimmer quietschte immer ein wenig. Schon gefühlte tausend Mal hatte ich Papa gebeten, das Quietschen zu beheben, aber er hatte stets mit einem Grinsen im Gesicht geantwortet, dass er so wenigstens hören würde, wenn sich nachts heimlich jemand in mein Zimmer schleichen wollte.
Das klare, laute Klacken, das mich gerade geweckt hatte, hallte in unserem großen Flur wider. Es war die Wohnungstür.
Mit