Im Himmel gibt es keine Tränen. Yvonne Tschipke

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Im Himmel gibt es keine Tränen - Yvonne Tschipke

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Freunde und ich fühlten uns dort wohl. Die kleine Bucht, umgeben von Bäumen und Gestrüpp, war unser Rückzugsort am Nachmittag. Hierhin verirrte sich niemand, der hier nichts zu suchen hatte. Ab und zu vielleicht ein paar Touristen, die den Radweg verfehlten. Doch ansonsten gehörte die Bucht uns ganz allein. Wenn es regnete fanden wir in dem kleinen Bootshaus, das am Ufer stand, Zuflucht. Trotz der unzähligen Löcher im Dach waren wir hier geschützt.

      Im Bootshaus hatte sich so manche meiner Freundinnen während der einen oder anderen Party mit ihrem Lover zurückgezogen und klammheimlich ihre Unschuld verloren. Okay, klammheimlich war vielleicht nicht der richtige Ausdruck, denn jeder von uns wusste, was im Bootshaus geschah, wenn zwei allein dorthin verschwanden. Da ich in der vergangenen Nacht mein weiches Bett den harten Holzdielen vorgezogen hatte, konnte ich mir sicher sein, dass keiner unserer Freunde von Tom und mir wusste.

      Emma saß schon auf dem Steg und ließ ihre nackten Füße ins Wasser hängen, als ich am Nachmittag zum Treffpunkt geradelt kam. Sie trug ein leichtes Trägertop und ihren superkurzen, superschicken Minirock. Genießerisch ließ sie ihr Gesicht von der Sonne bescheinen.

      Ich ließ mein Fahrrad ins Gras fallen und ging zu ihr auf den Steg. Emma tat so, als würde sie mich nicht hören, dabei knarrte jede der Holzbohlen laut, wenn ich sie mit den Füßen berührte.

      Auch als ich mich neben sie auf den Steg setzte und meine Schuhe auszog, reagierte meine Freundin nicht.

      „Hi, Emma. Alles klar?“, fragte ich.

      Emma drehte mir ihr Gesicht zu und schob ihre große Sonnenbrille ins Haar.

      „Bei mir schon. Und bei dir?“, erwiderte sie.

      Ich plätscherte mit meinen nackten Zehen im Wasser herum. Gerade in diesem Augenblick musste ich auf einmal an Toms große wunderbare Füße denken, die unter meiner Decke hervor geschaut hatten. Eine kleine wohlige Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper, die aber gleich wieder verschwand, als ich daran dachte, dass er mir noch immer nicht geantwortet hatte.

      Emmas Tonfall klang nach einer Mischung aus beleidigt und schnippisch. Wobei es da fast keinen Unterschied gab. Wenn Emma beleidigt war, reagierte sie immer auch schnippisch.

      „Bist du sauer auf mich?“, fragte ich.

      „Hätte ich einen Grund?“

      Ich holte tief Luft. Das konnte ja ein lustiger Nachmittag werden.

      „Ich weiß nicht. Sag du mir, was ich angestellt habe“, schlug ich vor.

      Emma sah mich eine gefühlte Ewigkeit schweigend an. Ihre Blicke lasen mein Gesicht.

      „Irgendetwas ist anders an dir. Ich bin mir nur noch nicht ganz so sicher, ob es das ist, was ich denke“, murmelte sie.

      Ich erschrak innerlich. Hatte sie es tatsächlich gemerkt? Wie machte sie das?

      Kriegte man einen riesigen Pickel auf der Stirn, wenn man keine Jungfrau mehr war?

      Oder bekam man ein verräterisches Leuchten in den Augen? Oder waren es die roten Hektikflecken an den Wangen, die einen verrieten? Erschien der Busen jetzt größer? Oder der Bauch dicker? Oder lief man anders?

      Ich musste grinsen bei all meinen blödsinnigen Gedanken.

      Emma drehte ihren Kopf wieder in Richtung See.

      „Jonah hat mir erzählt, dass er Tom gestern früh aus deinem Haus kommen gesehen hat“, erklärte sie mit einer Selbstverständlichkeit in der Stimme, dass mir schlagartig übel wurde.

      Gleichzeitig überkam mich eine derartige Wut auf Jonah, die mich fast dazu brachte, auf mein Rad zu springen und zurück in die Stadt zu rasen, um ihm eine reinzuhauen.

      Doch ich versuchte, meinen Schreck zu vertuschen. „So, hat er das?“, fragte ich scheinbar gelassen. „Was hast du denn mit Jonah Steinberg zu schaffen?“ Ich konnte eine gewisse Abneigung gegen den Jungen aus dem Haus gegenüber nicht verbergen. Wollte ich im Grunde genommen auch nicht. Was mischte der sich eigentlich in meine Angelegenheiten ein?

      Emma antwortete mir nicht. Sie ließ ihre Blicke wieder hinter der großen dunklen Sonnenbrille verschwinden und über die scheinbar endlose Weite des Sees wandern.

      Emma, meine liebe gute Emma, hatte eine Art an sich, die ich gleichzeitig liebte und hasste.

      Sie konnte einem das Gefühl geben, den größten Fehler seines Lebens gemacht zu haben. In ihrer Nähe fühlte ich mich eigentlich sehr wohl. Logisch, sie war meine beste Freundin. Doch zugleich kam ich mir manchmal so unendlich dumm in ihrer Gegenwart vor. Weil sie mir, ohne es selbst zu wollen, immer wieder das Gefühl gab, ein besserer Mensch zu sein als ich es war. Weil sie nie das Verlangen verspürte, mich wegen irgendetwas anzulügen. Weil sie, egal was es war, immer die Wahrheit sagte.

      Ich hatte sie schon öfter angelogen, weil mir die Wahrheit zu unbequem oder zu anstrengend erschien. Sie hatte mich immer durchschaut und es mich wissen lassen. Ich war in ihrer Gegenwart eine schlechte Lügnerin. Emma wollte immer die Wahrheit hören, weil sie der Meinung war, einen Anspruch darauf zu haben, nicht angelogen zu werden. Einfach deshalb, weil sie selbst ein grundehrlicher Mensch war.

      Ich holte noch einmal tief Luft.

      „Okay“, sagte ich schließlich. „Jonah hat Recht. Tom war Samstagnacht bei mir.“

      Jetzt war es raus. Doch Emma reagierte keineswegs mit Erstaunen oder Freudentaumel. Auch Erschrecken konnte ich nicht in ihrem Gesicht sehen. Noch nicht einmal das kleinste Bisschen Neid. Meine innere Prinzessin verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte. Ich muss zugeben, ich hatte schon etwas mehr erwartet. Immerhin kam es nicht alle Tage vor, dass ich den heißesten Typen der ganzen Schule in meinem Bett liegen hatte. Jedes andere Mädchen hätte wenigstens Neid gezeigt oder zumindest nachgefragt: „Was? Du? Wieso?“

      Aber nicht Emma.

      Emma saß da, schaute über den See und ließ die Füße ins Wasser baumeln.

      „Und?“

      Ich zuckte zusammen, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass Emma doch noch einmal mit mir sprechen würde an diesem Nachmittag.

      „Was – und?“, fragte ich.

      „Wie war es - mit Mister Genial?“ Emma nahm die Sonnenbrille ab und sah mich mit ihrem verschwörerischen Grinsen und ihren strahlenden blauen Augen an. Ich atmete erleichtert auf. Sie war nicht mehr sauer.

      „Naja, es war okay“, antwortete ich, griff aus lauter Verlegenheit mit beiden Händen nach meinen langen braunen Haaren und drehte sie zu einem Zopf, der sich allerdings sofort wieder auflöste, als ich ihn losließ.

      „Nur okay?“

      „Er schnarcht fürchterlich und stinkt morgens schrecklich aus dem Mund“, erklärte ich.

      Emma lachte leise. „Und sonst?“ Ich wusste genau, worauf sie hinaus wollte.

      „Keine Ahnung. Nicht anders als sonst“, sagte ich.

      „Habt ihr wenigstens verhütet?“ Emma legte ihren verantwortungsvollen Blick auf.

      Ich kam mir plötzlich vor wie bei einem Verhör.

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