MAD-MIX2: Corona-Shorts. Mari März

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MAD-MIX2: Corona-Shorts - Mari März

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Kramer, dem Therapeuten aus dem BLISS, etwas anzufangen. Nicht wahr?

      Aber nun genug der langen Vorrede. Stürzen wir uns in die düsteren Erinnerungen einer Frau, die ebenjene aus bestimmten Gründen verdrängen musste ...

       MEMO

      MARI MÄRZ © 2020

      Was sagt ein Haar über einen Menschen aus? Ist etwa ähnlich wie bei Jahresringen eines Baumes feststellbar, welches Leben dieser Mensch führte? Ich lasse ein solches Haar durch meine Finger gleiten.

      Es ist meins.

      Lang und blond.

      Die Farbe ist nicht echt.

      Wie so vieles an mir nicht echt ist.

      Die letzten Zentimeter sind brüchig.

      Ein Indiz, das mein Leben auszeichnet.

      »Mel-Schätzchen, was tust du denn da? Iss lieber was von dem Kuchen, du bist viel zu dünn!«

      Essen. Wie kann meine Mutter jetzt an Essen denken? Sie flaniert durchs Wohnzimmer, serviert ihren Gästen Getränke und Häppchen, als wäre das hier eine beschissene Party. Aber das hier ist keine Party, es sind auch nicht ihre Gäste.

      Meine Schwester ist keinen Deut besser. Sie benimmt sich wie Mutter, als würde sie mit ihr wetteifern. Schon als kleines Mädchen hat sie das getan. Die billige Kopie einer Frau, die selbst keine Bereicherung für diese Welt darstellt.

      »Lass die Kleine doch. Sie trauert und hat wahrscheinlich keinen Appetit.«

      Onkel Dieter. Was weiß der schon über mich? Fünfzehn Jahre war ich nicht hier gewesen, habe versucht, mein Leben zu leben. Ohne dieses Haus und ohne diese Familie. Aber heute musste ich wohl kommen, um Abschied zu nehmen.

      »Sie hat ihren Vater doch so geliebt«, höre ich meine Mutter sagen. Nein, sie sagt es nicht, sie singt die Worte. Für diese Frau ist alles rosarot, hübsch sortiert und blankgeschrubbt. Niemand weiß, wie es wirklich in ihr aussieht, hinter dieser Fassade aus Glitzer und Staub. Das habe ich wohl von ihr geerbt. Wahrscheinlich ist sie sogar froh, dass Papa tot ist. Drei Jahre hat er gelitten, bis der Krebs gewann.

      Niemand interessiert sich heute dafür. Dieser Leichenschmaus passt zu meiner Mutter – verlogen, verfressen, verdammt. Eine Tradition, die mir genau wie diese Frau suspekt ist.

      Ich wickle das Haar um meinen Zeigefinger und beobachte die Gäste. Das halbe Dorf ist hier, faselt, frisst und furzt. Hier, in diesem Kaff vor den Toren Berlins, wo ich meine Kindheit verbrachte. Warum bin ich hier? Um Papa die letzte Ehre zu erweisen? Weil es sich so gehört, dass die Tochter zur Beerdigung ihres Vaters erscheint?

      Direkt nach der Beisetzung hätte ich verschwinden sollen. Ab in den nächsten Flieger und zurück in mein Leben, den Abstand wiederherstellen, sechstausend Kilometer zwischen mir und diesem Haus.

      »Ja, unsere Melli hat ihren Papa sehr geliebt«, flötet meine Mutter in die Runde. Onkel Dieter hat sich zum Rauchen nach draußen verzogen. In mir steigt die Gier nach einem Joint. Den letzten hatte ich vor der Beisetzung, das ist jetzt zwei Stunden her. Aber wenn ich zu Onkel Dieter in den Garten gehe, wird er glauben, ich laufe ihm nach. Nein, das ist nichts für mich. Anbiedern ist das Steckenpferd meiner Schwester. Als Ebenbild unserer Mutter füllt sie Gläser auf, reicht Tabletts mit Kuchen und Canapés herum, präsentiert ihr Friede-Freude-Eierkuchen-Lächeln und glaubt offensichtlich sogar, dass alles in bester Ordnung sei.

      Das Haar ist so fest um meinen Zeigefinger gewickelt, dass ich ein schmerzhaftes Pochen spüre. Mein Blut kann nicht mehr richtig fließen, die Gefäße sind eingeengt von einem schlichten Haar. Mein Finger und ich haben vieles gemeinsam. Ich zerre das Haar von meinem Fleisch, gebe ihm Raum, werfe es auf den Teppich zu den Kuchenkrümeln der Gäste. Wenn ich noch länger zwischen all diesen netten Menschen sitze, werde ich explodieren.

      »Wo willst du denn hin, Schätzchen?«

      Meine Mutter hat ihre Augen überall, sieht aber letztlich nur das, was sie sehen will. Mich hat sie seit meiner Ankunft fest im Blick, auch wenn sie keine Ahnung hat, wie es mir geht. Ich habe gehofft, dass sie nicht bemerkt, wie ich mich aus dem Haus stehle, aber weit gefehlt. Ihre Unterhaltung mit zwei älteren Damen ist nur Fassade – wie alles hier.

      »Ich gehe mal an die frische Luft«, brumme ich eine lieblose Erklärung und verlasse meinen Platz auf der Couch. Er wird sofort von einigen Kindern okkupiert, die ich nicht kenne. Keine Verwandtschaft, soweit ich weiß. Aber was weiß ich schon?

      Alles hier wirkt fremd, wie aus einem Film, den ich irgendwann einmal gesehen habe. Die Erinnerungen sind bruchstückhaft, längst versunken in der Zeit. Ich bahne meinen Weg an Menschen vorbei, die mir fremd sind, durch ein Haus, das irgendwann mein Zuhause war. Der Geruch nach Vergangenheit begleitet mich, hüllt mich ein wie dichter Nebel, klebt an mir wie eine Patina – Schicht für Schicht ein Erlebnis, das ich vergessen habe.

      Ich öffne die Tür, atme die frische Frühlingsluft, empfange das Licht der Märzsonne auf meiner Haut und könnte fast glauben, dass ich mich gut fühle.

      Glitzer und Staub – zwei Dinge, die nicht zusammengehören und doch hier an diesem Ort vereint sind wie ein Paar Socken, von denen eines ein Loch hat. Ich bin die Socke mit dem Loch, war es immer gewesen. Ich bin der Staub, den man gern unter den Teppich kehrt wie unliebsame Wahrheiten.

      »Na, Melli-Herz, auch ’ne Kippe?«

      Onkel Dieter. Natürlich! Der Bruder meines Vaters. Sein Ebenbild oder vielmehr das Negativ – seitenverkehrt, entgegengesetzte Farbgebung, umgekehrt belichtet. Wie ich und meine Schwester. Sie ist der Glitzer, ich der Staub.

      Nur widerwillig lächle ich Onkel Dieter zu und gehe weiter. Er wohnt nebenan, die Grundstücke gehörten früher zusammen. Jeder Bruder bekam genau die Hälfte, baute ein Haus; das eine hell und schön, das andere dunkel. Im Gegensatz zu Papa war Onkel Dieter viel zu Hause. Bei sich und bei uns. Er half mir bei den Schularbeiten, meiner Mutter im Garten, meiner Schwester bei was auch immer. Er war immer da – wie ein Möbelstück, das man nicht wegwerfen will oder kann.

      Ob er meiner Mutter immer noch im Garten hilft? Alles sieht gepflegt aus, Hecken und Sträucher sind bereits geschnitten, Schneeglöckchen, Krokusse und Narzissen recken ihre bunten Spitzen siegesmutig der Sonne entgegen. Kein Frühblüher steht zufällig, ihre Zwiebeln wurden präzise in den Boden gesteckt; zwischen Gartenzwerge und Dekosteine. Und falls sich doch eine Pflanze erdreisten sollte, am falschen Fleck zu wachsen, dann wird sie herausgerissen und weggeworfen. Immer hübsch akkurat und adrett.

      Schon als Kind hasste ich diese pedantische Ordnung, fühlte mich wie in einer Filmkulisse. Nichts war real und ich nicht mehr als ein Requisit. Vielleicht kann ich mich deshalb nur schwer an jene Zeit erinnern. Sie war nicht echt, fühlte sich falsch an.

      Wie von selbst tragen mich meine Füße zu dem alten Apfelbaum. Seine Krone ist gestutzt, für den Sommer vorbereitet. Er wird Früchte tragen.

      Die Schaukel hängt noch. Eines der wenigen Rudimente meiner Kindheit. Meiner und ...

      Ich halte mich fest an den kalten Ketten der Schaukel. Der starke Ast des Apfelbaums ächzt unter meinem Gewicht. Mein Fuß tritt auf den Rasen, stößt sich ab.

      Bewegung.

      Mein

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