Iska - Die Flucht. Jürgen Ruhr
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„Ist er nicht“, konterte ihr Bruder.
Iska schüttelte den Kopf. „Das sagst du nur, weil ihr Freunde seid!“
Wiborg ballte die Hände zu Fäusten. Seine Schwester unterschied sich so sehr von den anderen Frauen und Mädchen im Dorf ... Immer wollte sie alles ganz genau wissen. Immer musste sie so viele Fragen stellen. Fragen, auf die kaum jemand eine Antwort fand. Wiborg öffnete die rechte Faust und hob fragend die Hand. „Warum soll Guntram dumm sein? Iska, bist du schlau? Und woran willst du dumm und schlau erkennen?“
Iska schaute erst zu Boden, dann auf den kleinen Gegenstand in ihrer Hand. „Nun, ich, ich ...“
„Aha, du? Ja, du bist also schlau?“
„Nun, Thoralf hat gesagt ...“
Wiborg schaute seine Schwester unverwandt an: „Thoralf hat gesagt! Thoralf ist ein alter Mann, der selbst noch einmal gerne eine junge Frau nehmen würde. Willst du etwa Thoralf heiraten?“
Iska schüttelte ernst den Kopf. „Nein, Thoralf meinte nur, ich sei nicht dumm und ich könnte Lesen und Schreiben und die Sprache der Römer lernen und ich könn...“
Wiborg fiel ihr in den Redefluss: „Iska, das sind doch Hirngespinste. Wir sind einfache Bauern und was dir Thoralf da an Flausen in den Kopf setzt, das ist dumm. Wozu soll das denn alles gut sein? Kannst du besser das Feld bestellen oder Schafe hüten, wenn du die Sprache der Römer sprichst? Oder kannst du besser Kinder bekommen und aufziehen oder das Essen für deinen Mann zubereiten oder ...“
Jetzt war es Iska, die ihrem Bruder ins Wort fiel. „Ich könnte in eine der Römersiedlungen gehen. Thoralf sagt, die Siedlungen sind so groß, dass sehr viele Menschen darin Platz finden. Und man kann dort arbeiten und bekommt dann immer genügend zu essen und eine eigene Hütte, die man nicht mit der Familie und dem Vieh teilen muss! Und die Römer nennen die Hütte Haus un...“
„Noch niemals ist jemand von uns in eine Römersiedlung gegangen!“ Wiborg wurde plötzlich sehr verschlossen und abweisend, ja beinahe wütend. „Die Römer sind schlechte Menschen, die von dem Wenigen was wir haben, immer einen großen Teil verlangen, so dass für uns kaum etwas zum Leben bleibt. Danach solltest du den Dorfältesten einmal fragen. Oder frage Vater!“
Iska, die mittlerweile vor ihrem Bruder stand, stampfte trotzig mit dem rechten Fuß auf: „Thoralf sagt, die Römer geben uns Schutz. Dafür müssen wir sie entlohnen.“ Sie schaute herunter auf ihre nackten Füße, die sich braun von der Sonne auf dem grünen Gras abmalten. „Thoralf meint, wenn wir mit den Römern mehr Handel treiben würden und weniger feindlich zu ihnen wären, dann ...“
Wiborg nahm die Hand seiner Schwester und drückte sie fest. In dieser Beziehung gingen ihre Meinungen stark auseinander. Wollte oder konnte seine Schwester nicht verstehen, was durch die Römer mit ihnen geschah? Gut, sie kannten kein anderes Leben - aber jenseits des großen Flusses wohnten noch freie Menschen. Freie Germanen, die ihre eigenen Regeln und Gesetze besaßen. Denen kein Römer das Handeln vorschrieb und denen kein Römer die Nahrung nahm.
„Iska, schau mich an. Die Römer haben unser Land überfallen und wir müssen für sie arbeiten. Diese Soldaten verlangen einen großen Teil unserer Ernten. So bleibt kaum etwas für uns und im Winter haben wir nie genug zu essen. Du redest von Sicherheit, von Schutz - pah, in früheren Zeiten haben wir uns selbst verteidigt. Wir waren Kämpfer und unsere Brüder jenseits des großen Flusses, den die Römer Rhenus nennen, sind es immer noch. Dort herrscht Freiheit und kein Römer wagt es seinen Fuß dorthin zu setzen - und wenn doch, so werden sie glorreich zurückgeschlagen.“
Auf Iskas Gesicht spiegelte sich Entsetzen. Schaudernd entzog sie ihrem Bruder die Hand. „Wiborg - du sprichst wie ein Krieger. Wir sind zivilisierte Menschen, wir leben unter römischem Schutz. Auch wenn wir einen Teil unserer Ernte - wie du sagst - abgeben, so ist es doch besser, als immer kämpfen zu müssen. Und zu sterben“, fügte sie noch hinzu und schüttelte sich bei dem Gedanken an den Tod.
Wiborg beruhigte sich allmählich wieder etwas. Er musste einfach akzeptieren, dass seine Schwester in dieser Beziehung völlig andere Vorstellungen hegte als er. Trotzdem durfte er nicht aufgeben, sie von der Wahrheit zu überzeugen. Zu klein war Iskas Welt, als dass sie die Zusammenhänge erkennen könnte. Im Stillen musste Wiborg zugeben, dass seine eigene Welt ja auch nicht viel größer war. Zärtlich legte er eine Hand auf die Schulter seiner Schwester. „Iska, der Dorfälteste Thoralf ist ein alter Mann. Sicher mag er sich mit den Römern arrangieren und mit ihnen auskommen - und unser Dorf respektiert seine Entscheidung und die des Dorfrates - aber es gibt auch andere Stimmen!“
„Andere Stimmen? Wer, Wiborg, wer spricht so?“
Wiborg schaute verlegen zu Seite. „Das kann ich dir nicht sagen. Es ist ja auch nicht so wichtig. Schau, dort am Waldrand - ein Reh.“ Und wirklich schien sein Ablenkungsmanöver Wirkung zu zeigen, denn Iska betrachtete fasziniert das Tier, das friedlich und ohne sich durch die Menschen stören zu lassen, am Waldrand graste. Beide betrachteten es eine Weile und hingen ihren Gedanken nach.
Doch Wiborg freute sich zu früh und rechnete nicht mit der Hartnäckigkeit seiner Schwester. Die wandte sich abrupt wieder zu ihm um: „Gibt es jemanden in unserem Dorf, der solche Zwietracht sät?“
„Nein, Iska, lass es gut sein. Ich möchte dich nicht in Gefahr bringen.“ Das sollte beschwichtigend klingen, erreichte bei seiner Schwester aber nur das Gegenteil. Jetzt war sie erst recht hellhörig geworden. Wiborg stellte sich auf einen längeren Disput ein.
„Gefahr? Wiborg du bringst uns alle in Gefahr! Sprich endlich, wer dir solche Dinge erzählt!“ Auffordernd sah sie ihren Bruder an und der ahnte, dass er zumindest um ein Teilgeständnis nicht herumkommen würde. Vor allem dann, wenn er verhindern wollte, dass ihr Vater oder der Dorfälteste von diesem Gespräch erfahren sollten. Im Stillen verfluchte der Junge sich für seine Geschwätzigkeit. Wieso hatte er nicht einfach seine Worte im Griff halten können? Dann atmete er tief durch: „Also, Iska, du musst mir versprechen, dass das, was ich dir sage, unser Geheimnis bleibt. Es besteht keine Gefahr, bestimmt nicht. Versprichst du mir, mit niemandem darüber ein Wort zu wechseln?“
Iska sah ihren Bruder ernst an, überlegte kurz und nickte dann. „Gut, ich verspreche es. Ich werde keinem Menschen ein Wort darüber erzählen.“
Doch das genügte Wiborg noch nicht: „Du musst es schwören - bei Donar!“
Iska warf jetzt zweifelnd einen Blick auf ihren Bruder: „Bei Donar? Muss das sein? Du übertreibst, Wiborg.“
„Wenn du nicht schwörst, erzähle ich dir garnichts! Dann bleibt es für ewig mein Geheimnis. Was auch besser so wäre“, fügte er leise hinzu.
Iska gab sich geschlagen. In dieser Beziehung konnte Wiborg eisern bleiben: Wenn sie nicht den gewünschten Schwur sprach, bekäme sie nicht ein einziges Wort seines Geheimnisses zu hören. Und was änderte denn schon so ein blöder Schwur? Sie wollte die Geschichte ja ohnehin niemandem erzählen. „Also gut, ich schwöre.“
„Du musst richtig schwören. Sage: Ich schwöre bei Donar, niemandem ein Wort von unserem Geheimnis zu berichten; ich schwöre bei Donar und wenn ich meinen Schwur breche, so soll mich Hödur in die dunkle Welt der Verdammnis tragen. Also, Iska, sprich diese Worte!“ Wiborg hob die rechte Hand und Iska tat es ihm nach. Feierlich sprach sie dann den geforderten Schwur und sah ihren Bruder dabei unverwandt an. Jetzt ergriff auch sie der Ernst der Situation.
Wiborg schien endlich zufrieden. Zustimmend nickte er. Jetzt war er bereit,