Iska - Die Flucht. Jürgen Ruhr
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Iska reichte Wiborg das Messer. Es war eines der Messer, die sie zum Schilfschneiden benutzten, eines mit einer langen, spitzen Klinge. Wiborg ließ seinen Daumen prüfend über die Schneide gleiten. Ein Tropfen Blut trat aus seiner Haut. „Verdammt scharf. Das scheint ein Messer von Thoralf zu sein.“ Wiborg sprach mehr zu sich selbst, als zu Iska, doch die hatte ihn gut verstanden.
„Der Dorfälteste überließ es mir vor einiger Zeit. Ich habe es nicht gestohlen, falls du das denkst!“
„Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Iska, bitte überlege dir das noch mal. Es wird uns beiden nur Ärger einbringen. Sind die Haare erst einmal abgeschnitten, gibt es keinen Weg mehr zurück. Denk doch an die Prügel, die auf uns warten werden!“
Eindringlich sah Wiborg seine Schwester an. Dann wanderte sein Blick über deren dunkle Locken, die bis auf die Schulter reichten. Er betrachtete seine Schwester und seine Augen bettelten darum, diese Haarpracht nicht abschneiden zu müssen. Verzweifelt suchte er immer noch nach einem Ausweg aus dieser Situation. „Es wäre eine Schande, solch schöne Haare abzuschneiden. Du wirst nichts erreichen, Iska. Bitte sei vernünftig!“
Iska schüttelte den hübschen Kopf. Von dieser Idee ließ sie sich nicht mehr abbringen. Für sie war das jetzt der einzige Weg, nicht heiraten zu müssen. Nicht Guntram und auch niemand anderen. „Nein, tu es. Bitte. Du hast es versprochen und dein Versprechen musst du halten. Und nun mach, wir müssen bald zurück ins Dorf.“ Iska drehte ihm den Rücken zu. Kurz überlegte Wiborg, ob es einen Sinn machen würde, die Prozedur noch ein wenig hinauszuzögern. So lange, bis es zu spät war und sie ins Dorf zurückkehren mussten. Dann aber zuckte er mit den Schultern und machte sich vorsichtig daran, die Lockenpracht seiner Schwester zu kürzen. Strähne für Strähne und Locke für Locke fielen dem Messer zum Opfer und landeten im grünen Gras. So, als wollte sie diese Schande nicht erblicken müssen, verfinsterte eine große dunkle Wolke das Licht Sunnas. Wiborg blickte kurz zum Himmel und bat die Götter in Gedanken um Verzeihung. Das Messer war scharf und so dauerte es nicht lange, bis alle Haare kurzgeschoren waren.
„Fertig.“
„Und wie sehe ich aus?“
„Wie ein Junge, es fehlt dir nur noch die Kleidung.“ Wiborg zeigte sich von seinem Werk nicht sonderlich angetan. Im Geiste spürte er schon die Prügel. Warum hatten die Götter ihm auch keine Hilfe geschickt?
Iska zog sich mittlerweile die Männerkleider an und verstaute ihr Gewand im Beutel. Das Messer nahm sie ihrem Bruder aus der Hand und klemmte es im Hosenbund ein. „So, jetzt bin ich ein richtiger Junge. So wird mich Guntram bestimmt nicht heiraten.“
„Nein, so nicht. Aber nachdem Vater dir eine ordentliche Tracht Prügel verabreicht hat und du wieder dein Frauengewand anziehen musstest, dann vielleicht ...“ Wiborg betrachtete Iska von allen Seiten. ‚Bei Donar‘, dachte er bei sich, ‚sie sieht wirklich aus wie ein Junge‘.
Iska trug den Beutel an einem Band über der Schulter. „Lass uns heimkehren, Vater wird uns bestimmt schon vermissen. Außerdem muss noch das Vieh versorgt werden.“ Sie klang jetzt nicht mehr ganz so selbstsicher wie zuvor und Wiborg merkte, dass seine Schwester sich wohl auch Gedanken machte. Aber jetzt war es zu spät, um noch etwas ändern zu wollen.
III. Der Mord
Langsam gingen sie nebeneinander auf das Dorf zu, jeder trug stolz einen Korb voller Früchte, und je näher sie den wenigen Hütten kamen, desto einsilbiger wurde Iska. Aber auch Wiborg schien in Gedanken versunken. Das ganze Dorf würde über sie lachen und sie könnten schon zufrieden sein, wenn es bei den Prügeln bliebe, die ihnen ihr Vater mit Sicherheit verabreichen dürfte. Mit Schrecken dachte Wiborg daran, was Elfrun dann über ihn denken würde. Wieso musste er auch seiner Schwester dieses dumme Versprechen geben? Und bekäme er nach dieser Angelegenheit überhaupt noch eine Chance mit Elfrun zusammenzukommen? Das hässlichste und dümmste Mädchen im Dorf würden sie für ihn zur Strafe, dass er seine Schwester so verunstaltet hatte, aussuchen. Wiborg begann leise die Götter um Gnade anzuflehen. Gnade für sich und seine Schwester.
Nach einem kurzen Fußmarsch ließen sie den Wald hinter sich und spazierten jetzt über eine Wiese, die von einem kleinen Hügel zu der Ansammlung von Hütten führte. Von hier aus überblickten sie einen Großteil der Felder und das an einem Waldrand gelegene Dorf.
Um einen kleinen Platz gruppierten sich weitläufig Hütten, die sowohl den Menschen, als auch den Tieren ein Zuhause waren. Aus einer dieser Hütten stieg leichter Rauch zum Himmel auf. Mittlerweile zählte das Dorf sieben dieser Behausungen. Geplant war der Bau einer weiteren direkt am Waldrand. Es sollte zunächst nur eine kleine Hütte werden und nur wenige Bäume würden dafür weichen müssen. Guntram und Iska würden dort ihr Heim finden. Der Platz war vom Dorfältesten und ihrem Vater schon bezeichnet worden. Alle Männer des Dorfes würden mit anfassen und in kürzester Zeit die Hütte bauen. Alles war geplant, alles stand fest. Nie und nimmer verzichtete Guntram auf die Hochzeit! Welch eine dumme Idee von Iska. Er betrachtete seine Schwester von der Seite. Selbst mit diesen kurzen, franseligen Haaren war sie noch wunderhübsch. Guntram wäre nie und nimmer der Narr, der auf diese Frau verzichten würde!
Plötzlich schaute Wiborg auf. Zunächst mutete es an wie eine dunkle Rauchwolke zwischen den Bäumen, dann erkannte er, dass auf der gegenüberliegenden Dorfseite Reiter auf einem Weg aus dem Wald preschten. Hochgewirbelter Staub ließ die Männer verschwommen erscheinen. Es handelte sich um geordnete Zweierreihen und unschwer erkannte der Junge, dass es römische Soldaten waren. Wiborg gab seiner Schwester einen Stoß. „Schau!“
Iska sah angestrengt zu der Stelle, die ihr Bruder ihr mit ausgestrecktem Arm zeigte. „Was ist das?“
„Das sind römische Soldaten. Sie kommen in diesem Jahr sehr früh in unser Dorf. Normalerweise ist noch ein wenig Zeit, bis die Römer ihren Tribut fordern. Sonst kommen sie doch immer nach dem vollen Mond, bevor er wieder schwindet, in unser Dorf. Diese hier sind zu früh. Was das wohl zu bedeuten hat?“ Wiborg klang besorgt. Dieser Besuch der Soldaten machte keinen Sinn und er konnte sich deren Verhalten nicht erklären.
Auch Iska machte sich jetzt Gedanken. „Vielleicht greifen sie das Dorf an?“ Sie war entsetzt, aber Wiborg konnte sie beruhigen: „Nein, dafür sind es zu wenige. Außerdem halten sie keine Waffen in Händen! Das kann ich ganz genau erkennen. Komm, beeilen wir uns. Ich bin neugierig, warum die Soldaten alle dort unten sind.“
Schon wollte Wiborg losrennen, als Iska ihn zurückhielt. „Sollten wir uns nicht lieber verstecken? So wie ich es sonst auch mache, wenn die Römer in unser Dorf kommen?“ Wiborg schüttelte den Kopf. „Du kannst dich ja verstecken. Aber ich glaube, dass diesmal kaum Zeit geblieben ist, die Frauen und Kinder im Dorf zum Versteck zu führen. Geh zurück in den Wald und warte dort, bis ich dich hole!“
Iska krallte sich in die Schulter ihres Bruders. „Nein, Wiborg. Ich gehe mit dir. Wenn alle Männer und Frauen des Dorfes dort sind, möchte ich mich nicht feige verstecken.“
Beide rannten über die Wiese zu den Hütten hinunter. Mittlerweile erreichten die Soldaten den Platz in der Mitte des Dorfes. Die Männer saßen in einem Halbkreis hinter einem einzelnen Reiter auf ihren Pferden. Gegenüber den Soldaten und links und rechts zu den Seiten fanden sich allmählich die Dorfbewohner ein. Nach und nach wurden es immer mehr und es schien, als käme das ganze Dorf jetzt hier zusammen. Schwer atmend erreichten Wiborg und Iska den Rand des Platzes. Das Mädchen, das jetzt wie ein Junge aussah, schaute mit großen Augen auf die prächtig gekleideten römischen Soldaten. Bisher waren die