Erleuchtet. Emmi Ruprecht
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Erleuchtet - Emmi Ruprecht страница 11
Ich blätterte den mehrseitigen Bogen auf und überflog die erste Seite. „Grübeln Sie viel?“, lautete eine Frage. Ja, doch, ich denke schon. Obwohl – ich reflektierte mich halt. War das so schlimm?
„Haben Sie Angst davor Entscheidungen zu treffen?“
Entscheidungen treffen? Ich hatte den Aszendent Waage – da fiel es mir natürlich schwer mich zu entscheiden. Aber dafür konnte ich nichts, das war mein Sternbild!
„Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen?“
Ich fühlte mich ertappt. Obwohl „stimmt teilweise“ kam der Wahrheit doch schon recht nahe, oder? Ich meine, ich hatte ja nicht ernsthaft vorgehabt ... das war ja eigentlich ein Versehen gewesen!
Irgendwann war ich mitten drin und kreuzte an, dass ich bislang noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten war (war das jetzt gut oder schlecht?), dass ich es eher schwierig fand, eine an mich gestellte Bitte abzulehnen, dass Alleinsein kein Problem für mich darstellte und ich anderen Menschen viel zu selten sagte, was ich wirklich von ihnen dachte. Seite für Seite arbeitete ich durch und beantwortete brav einen Punkt nach dem anderen.
Manchmal fand ich die Fragen schon ein wenig unangenehm und musste deshalb die angekreuzten Antworten mit Bemerkungen, die ich an den Rand kritzelte, erläutern: Natürlich war ich absolut davon überzeugt, dass ich ein nützlicher Mensch war und man mich brauchte. Nur andere Menschen wussten das nicht! Aber dafür konnte ich doch nichts? Und woher sollte ich wissen, ob mir Sex noch genauso viel Spaß machte wie früher? Ich hatte keinen!
Als ich die letzte Seite ausgefüllt hatte, fand ich, dass auch mein Gesprächspartner sich mal wieder blicken lassen könnte. Ich sah hoch – und begegnete dem Blick von Herrn Dr. Gärtner. Er saß im Sessel gegenüber und starrte mich unverwandt an. Ich hatte nicht gehört, dass er zurückgekommen war, und nun erschrak ich, als er so plötzlich vor mir saß.
Als ich mich wieder gefasst hatte, überlegte ich, dass er doch Tee hatte holen wollen. Dann fiel mein Blick auf den Tisch, und wie von Zauberhand stand dort plötzlich ein Tablett mit einer Thermoskanne, Milch und Zucker. Eine Tasse mit dampfendem Tee stand genau vor mir auf der Glasplatte.
Erstaunt sah ich wieder zu meinem Gegenüber. Sein Blick hatte sich nicht verändert und war immer noch direkt auf mich gerichtet. Nicht unfreundlich, aber beobachtend. Ich fühlte mich komplett durchleuchtet und mir wurde heiß und kalt.
„Fertig?“, fragte er.
Ich nickte und reichte ihm die Bögen über den Tisch. Dann nippte ich erst einmal an dem Getränk und versuchte mich zu sammeln. Moment mal! Eigentlich wollte ich doch gar nicht von ihm therapiert werden! Und jetzt gab ich ihm sogar die Gelegenheit, Dinge über mich aus den Bögen zu lesen, die ich selbst meinen besten Freunden gegenüber niemals zugegeben hätte? Das lief aber gerade gar nicht optimal!
Mein Gegenüber schien meinen Konflikt nicht zu bemerken und las sich meine Antworten sofort durch. Auch das war mir unangenehm. Da ich befürchtete, irgendeine Reaktion in seinem Gesicht ablesen zu können, was mir erst recht unangenehm gewesen wäre, studierte ich stattdessen lieber seine Bücher in den Regalen, denn von denen gab es eine Menge. „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ – das hörte sich ja ganz nett an. Dann sah ich „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ gleich neben „Ich bin Viele – Eine ungewöhnliche Heilungsgeschichte“. Huch, das war ja auch ein Schicksal! Im Regalfach daneben fiel mir „Zur Psychologie des Massenmords“ ins Auge. Daneben stand „Stalking and Psychosexual Obsession“ sowie „Operation Triebtäter – Kastration als ultima ratio“. Ja, sag einmal ... mit so etwas befasste er sich? Um Himmels Willen! Was waren das für Leute, die normalerweise hier in diesem Sessel saßen? Stalker, Triebtäter und Massenmörder?
Umso besser, dachte ich nach einer Schrecksekunde. Dann würde ja nach dem Studium meiner Antworten in diesem Bogen endlich klar sein, dass ich hier nichts zu suchen hatte und sich Herr Dr. Gärtner woanders um Klienten bemühen musste!
Während ich geneigt war, mich an diesem Gedanken festzubeißen, räusperte sich mein Gegenüber, ordnete die von mir ausgefüllten Bögen auf seinem Schoß und sah mich zufrieden an.
„Gut“, sagte er, „das ist doch sehr aufschlussreich.“
„Was genau meint er jetzt damit?“, dachte ich, nun doch wieder verunsichert wegen seines zufriedenen Gesichtsausdrucks. Spätestens jetzt müsste doch klar sein, dass hier, mit mir, für ihn überhaupt nichts zu holen war. Schließlich befasste er sich normalerweise mit Triebgestörten und Traumatisierten. Ich jedoch verfügte über keinerlei nennenswerte Traumata, hatte keine schlimmen Dinge getan und kam so im Großen und Ganzen ganz gut mit meinem Leben zurecht – na ja, bis auf darauf, dass ich manchmal daran verzweifelte, aber das war ja nur zu verständlich. Wir könnten doch jetzt eigentlich unseren Tee austrinken, noch ein paar Artigkeiten austauschen und uns dann voneinander verabschieden? Was suchte ich eigentlich hier? Hatte ich hier überhaupt etwas zu suchen?
Mein Gegenüber hörte nicht auf mich anzustarren. Nicht feindselig oder strafend, weil ich ihm seine Zeit stahl und er vielleicht auf einen interessanteren Fall gehofft hatte. Nein, eher nachdenklich und ... ja, komplett emotionslos! Das verunsicherte mich noch mehr. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, was er so dachte! Doch eigentlich gab es in meinem Fall ja auch nichts zu denken. Punkt.
Hm. Vielleicht wusste Herr Dr. Gärtner nur nicht, wie er aus der Nummer wieder herauskommen sollte? Schließlich hatte er mich aufgegabelt, mich zu einem Termin einbestellt und einen ganzen Stapel von Fragen zur Beantwortung vorgelegt. Vielleicht war es ihm peinlich, mich falsch eingeschätzt zu haben? Womöglich überlegte er fieberhaft, wie er mir sagen konnte, dass ich eigentlich ganz okay war und nach Hause gehen konnte!
Aber so, wie er mich ansah, so vollkommen regungslos, konnte es noch eine Weile dauern, bis diese Erkenntnis soweit von ihm verdaut war, dass er sie vorzutragen vermochte. Deshalb beschloss ich ihm zu helfen, die peinliche Situation erträglicher zu machen und zügig aufzulösen. Außerdem hatte ich nun das dringende Bedürfnis, die Stille zu durchbrechen – und sein Starren!
„Wirklich – ein toller Fragenbogen. Superinteressant!“, lobte ich.
Vielleicht würde eine positive Rückmeldung das Eis brechen?
„Hat er denn irgendeinen Aufschluss über mich gebracht?“
Mit dieser Frage signalisierte ich ihm, dass ich das durchaus für möglich hielt, und ich seine Einschätzung, die dazu geführt hatte, dass er mich zur Therapie vorlud, nicht für völlig bekloppt hielt, was ich natürlich tat. Ich muss sogar zugeben, dass ich mir im Geiste zuhause schon einen Kaffee kochte, eine Schachtel Pralinen bereit stellte und Freundin Imke anrief, um ihr von diesem wirklich erstaunlichen Nachmittag brühwarm und ausführlichst zu erzählen.
„Oh, nichts Ungewöhnliches. Alles ganz normal“, sagte Dr. Gärtner.
Ich atmete erleichtert aus. Na, wenn er das jetzt endlich einsah, dann konnten wir die Angelegenheit auch baldigst zum Abschluss bringen. Ich hätte dann auch noch Gelegenheit, den freien Nachmittag zu nutzen, um mal wieder in der Stadt zu shoppen. Man kam ja so selten dazu, wenn man keine Lust hatte, sich nach Feierabend oder samstags ins Gewühl zu stürzen.
Dann dachte ich, dass es mir trotzdem ein bisschen peinlich war, dass ich Herrn Dr. Gärtner enttäuschen musste, weil er keinen