EINFACH. ÜBER. LEBEN.. Maxi Hill
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»Man braucht immerhin einen selo für jedes Teil. Was für den Zoll nicht wertlos ist, wird auch nicht wertlos sein. Später einmal wird der ideelle Wert für uns der größere sein.«
Warum war ich nicht still, warum verhandelte ich noch? Es war ohnehin zu spät umzukehren. Wenn der Dürstende das Wasser spürt, gibt es kein Zurück mehr. Selbst bei größter Gefahr.
Hinter dem Müllberg saßen Kinder, wühlten im Unrat nach Essbarem und starrten uns mit großen Augen an. Einige von ihnen reckten ihre schmutzigen Hände uns entgegen und ich war sicher, wir würden bis zu unserem Ziel eine kleine Eskorte aus hungrigen Mündern mit uns ziehen, die Grimassen schneiden und wilde Verrenkungen aufführen würden. Ich war diese Wege durch den bairro noch nicht oft genug gegangen, um so viele Kinder zu bemerken. Der Schlafende weiß von nichts. Nur wer sich auf den Tag einlässt, dem öffnen sich die Augen.
Als ich zum ersten Mal unten in der Stadt Kinder im Müll gesehen hatte, war meine einzige Regung pures Entsetzen, Verachtung für die Eltern, die nicht auf ihre Kinder achteten. Es seien doch keine Ratten, und der Unrat sei kein Ort für das Spiel eines Kindes, das gesund und kräftig werden sollte, um seine Eltern einmal ernähren zu können.
Wie hatte man sich inzwischen an den Anblick gewöhnt!
Ich konnte plötzlich nicht mehr reden, nicht darüber, worüber Hellen gewöhnlich schwatzte. Ich wünschte, auch ihr ginge es wie mir. Doch der Anblick des Elends führt bei verschiedenen Seelen durchaus zu verschiedenen Resultaten. Hellen trat heftig mit den Füßen in das dürre Gras neben dem staubigen Weg und ließ wieder ihr ständiges »igitt« durch die in Ekel festverbissenen Zähne schlüpfen. Dabei rümpfte sie ununterbrochen die Nase. Mindestens genauso energisch versuchte sie, mich noch einmal zur Umkehr zu bewegen. Sie tat mir leid. Was musste sie ob ihrer empfindsamen Wahrnehmung gelitten haben. Es gab hier kaum zwanzig Meter Weg, auf dem kein Unrat lag, kaum ein Gebüsch, aus dem nicht die Exkremente gen Himmel stanken. Nur um die Opuntien schwirrten die Schmeißfliegen nicht in Scharen herum, obwohl gerade diese bombastischen Gebüsche als Ersatz für fehlende Latrinen dienten. Die Natur weiß sich offenbar besser zu helfen, als der Mensch dem Menschen.
Je näher wir der Hütte in der dritten Reihe kamen, desto sicherer war ich, wenn auch nur für einen kurzen Moment, dass meine Knie zitterten. Ich vermisste den Widerhall der Mörser, dennoch konnte es keine Vorahnung gewesen sein. Mein Herz raste in dem Maße, wie der löchrige Zaun mehr und mehr vom Elend preisgab, von dem wir nichts ahnen konnten. Diesmal waren an Enkembes Hütte auch zwei Männer anwesend. Sie knieten auf der blanken Erde und zimmerten notdürftig eine kleine Kiste zusammen, keine sechzig Zentimeter lang. In der Tür lehnte, abgemagert und mit fadem Gesicht jene Frau, die vor einigen Tagen mit schwangerem Leib zusammen mit der Alten Hirse gestampft hatte.
Mir war sofort klar, woher dieser Schmerz in mir rührte. Jene Kiste, für die sich der Vater heute einmal Zeit nahm, sollte das tote Baby aufnehmen, das keine Chance hatte, in dieser Welt zu überleben. Alle fünf Sekunden stirbt auf dieser Erde ein Mensch an den Folgen der Unterernährung, das hatte ich im Sputnik gelesen.
»Es war der Hunger«, sagte ich, fest davon überzeugt, Hunger sei auch in diesem Land die Todesursache Nummer eins.
»Dieser verdammte Krieg«, fluchte Hellen, in dem sie sich beide Hände vor ihren erschrockenen Mund presste. Ob es wirklich nur der Krieg war, der den Hunger brachte, bezweifelte ich. Für Politiker war der Krieg der Vater aller Rechtfertigungen. Wir waren keine Politiker, wir mussten es uns nicht so einfach machen. In einem aber hatte Hellen Recht. Nicht Malaria, nicht Tuberkulose oder Aids waren die Ursachen des Massensterbens. Nicht einmal die kriegsbedingte Übervölkerung dieser Stadt schien das Problem zu sein. Ich musste nicht einmal an meine angolanischen Nachbarn Rosa und Tharkino denken, man brauchte sich nur umzusehen. Die Lebensmittelknappheit war nichts als der Auswurf korrupter Ungerechtigkeit.
Um Hellen bei der Stange zu halten, murmelte ich die Weisheit eines Experten der Welthungerhilfe vor mich hin, die mir schon seit geraumer Zeit nicht aus dem Sinn ging:
»Auch wenn die meisten Opfer nicht im strengen Sinne verhungern, so sterben sie doch an Krankheiten, die bei guter Ernährung nicht lebensbedrohlich gewesen wären.«
Ich spürte Hellens Hand auf meinem Arm und hörte ihr stoßartiges Raunen, doch zu reden war sie nicht imstande.
»Es gäbe genug zu essen auf dieser Welt«, murmelte ich, selbst unschlüssig, was in diesem Moment am Zaun leidgeprüfter Menschen zu tun sei. Das allerdings durfte ich mit Hellen nicht bereden, nicht jetzt. Noch eine Weile standen wir betroffen herum. Nur ein schäbiger Zaun trennte uns von dem Elend, genug, um zu ergründen, jeder für sich und ohne Worte, wie viel fremden Leides man ertragen kann. Auch Hellen schien das gleiche Entsetzen gepackt zu haben wie mich.
»Die armen Kinder«, zischte sie dicht neben mir, zog an meiner Bluse und schob ihr Gesicht dicht hinter meinen Kopf, als dürften diese Menschen da hinter der Absperrung sie nicht erkennen, ihr Wohlergehen nicht begreifen.
Ich war in diesem Moment auch nicht gerade stark, und immer, wenn ich mich schwach fühlte, dachte ich an mein Kind, das so unerreichbar fern von mir war. Dafür sei es wohlernährt und gutgebildet, sehnsuchtsvoll im Moment, aber an Körper und Geist unversehrt, wie man sagt.
Heute bin ich von der Unversehrtheit der kindlichen Seele nicht mehr überzeugt, aber die Zeit half mir über die Trugschlüsse des Lebens hinweg. Sie heilte nicht die Wunden mütterlichen Leidens, wohl aber die meiner Unwissenheit. Sie machte mich klüger, aber nicht ruhiger. In diesem Moment unschlüssigen Verharrens war ich endlich einmal wütend.
Im hinteren Winkel des Hofes, wo die Sonne ein helles Dreieck in den Sand malte, hockten die Kinder der Familie beieinander mit großen, ängstlichen Augen. Sie sprachen kein Wort. Auf den ersten Blick waren es ganz normale Kinder, zerzauste Wuschelköpfe, verschmierte Münder, gelb-verkrustete Nasen und ebensolche Krümel in den Augenwinkeln. Man konnte sicher sein, sie waren nicht an diesem Morgen so schmutzig geworden. Also fehlte es an Wasser. Vom einzigen Bach, der durch diese Stadt floss, waren wir soeben gekommen, etwa drei Kilometer von hier entfernt. Neben der Hauptstraße dicht beim Laureano floss er von West nach Ost durch die bairros dieser Stadt. Wie weit es von hier bis zur Quelle unterhalb der Igreja Senhora da Monte war, konnte ich nicht abschätzen, aber es war sehr weit für nackte Füße.
Das Auffälligste an den Kindern waren ihre runden Bäuche, die die Kleinen wohlgenährt erscheinen ließen, wüsste man nicht um die Folgen der Unterernährung. Nur Enkembe hatte keinen so aufgedunsenen Bauch. Er stand bei seinen Geschwistern und bastelte an einem Drahtgestell herum. Not beflügelt zuweilen die Fantasie. Enkembe hatte aus Draht und einer zerbeulten Fanta-Dose ein kleines Vehikel geformt, das die Grundform eines Autos erkennen ließ. Er hatte uns bemerkt, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Ein wenig beklommen winkte ich ihm zu. Nur mit den Augen und einem leichten Lächeln, schon kam er angeflitzt. In meiner Tasche zusammengeknüllt steckte ein Ringelpullover, den ich eigens für den Jungen mitgenommen hatte. Das war es, was mir den ganzen Weg über eigenartig auf der Seele brannte. Man wusste nie, womit man den Menschen hier eine Freude bereiten konnte. Einmal wollte ich einer Landfrau meine Strickjacke schenken. Sie saß vor ihrer armseligen Hütte bei den Hügeln außerhalb der Stadt und stillte ihr Kind. Die pralle Brust quoll aus den Löchern ihres zerfetzten Kittels. Dennoch wehrte die Frau meine großzügige Gabe ab. Für sie hatte das Ding keinen praktischen Wert. Ihrer Geste zufolge wollte sie lieber pano, irgendeinen Stoff, in den sie sich selbst nach Belieben wickeln oder ihr Kind damit auf dem Rücken festbinden konnte. Sicher war Stoff auch hilfreich für die Nacht, deckte den Körper zu, oder auch zwei. Jedenfalls besser, als die schön gemusterte Jacke, die nur für einen einzigen Menschen taugte, nur für den Tag geschaffen war und nur für