EINFACH. ÜBER. LEBEN.. Maxi Hill
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Ich dachte an Carlos und daran, wo er wohl wohnen könnte. Ganz bestimmt da weit unten im grünen Land, von wo er seinen Blick auf die Felsen gerichtet haben mochte, die er nie erklimmen sollte. Und ich dachte an meine Kinder.
Mein mütterlicher Schmerz im Herzen und die nächtliche Angst seit meiner Ankunft, wandelten sich bald in nachdenkliche Stille. Ich fühlte mich merkwürdig untätig, obwohl es täglich viel Mühe bereitete, das profane Leben abzusichern. Mein Herz wurde nie leicht und mein Kopf war wie leergeblasen.
Das änderte sich erst viel später, als ich anfing, heimlich zum Bairro zu laufen…
KINDER IM STAUB DER STRASSE
Ich erinnere mich ungewöhnlich gut an den Tag, wo die Veränderung ihren ungewollten Anfang nahm. Es war Sonntagvormittag. Wir waren — ordentlich bei Björn abgemeldet — mit unseren deutschen Nachbarn Hellen und Dietmar zu Fuß den weiten Weg bis zum Stadtpark gegangen, der hier feira genannt wurde, weil in diesem Areal alle großen Zusammenkünfte stattfanden. Der Morgen war noch mild, und wir genossen die Ruhe. Zu dieser Zeit hielten sich kaum Menschen da draußen am Fuße der Tafelberge auf. Eigentlich war es der netteste Vormittag, den wir je mit Hellen und Dietmar verbracht hatten. Wir saßen auf einer Bank und lauschten den Wasserspielen, die das Schwimmbecken im unteren Park speisten. In einem bombastischen Gummibaum zirpten Zikaden. Wir hielten unser Picknick ab und erzählten von zuhause, von den Kindern und unseren Berufen, die wir Frauen vermissten. Der Tag ging dahin, aber keiner verspürte Lust, wieder von hier aufzubrechen, Dabei war es höchste Zeit. Wir hatten und bis gegen Sechzehnuhr abgemeldet. Gegen Siebzehnuhrdreißig begann die Sonne rasant hinter die Bergen zu verschwinden und ab Achtzehnuhr war es zu jeder Zeit stockdunkel. Der Weg zurück war lang. Beinahe eine Stunde war zu laufen, aber Dietmar meinte, es gäbe einen kürzeren Weg quer durch den bairro.
Wir liefen auf halber Distanz zwischen Tafelberg und Stadtzentrum durch ein unendlich großes, unendlich verwirrendes Gebiet. Offiziell nannte man diese Ansammlungen der Flüchtlingshütten bairro, aber wir wussten längst, dass dieses Wort schlicht Stadtteil heißt. Dies hier waren in Wahrheit Elendsviertel, wo die Straßen ihre Namen verloren, sich in Trampelpfade verengten um ganz zu versanden. Hier atmete die Wirklichkeit unter der Weite des afrikanischen Himmels unheimliche Bedrückung. Hier hausten die Ärmsten der Armen, Menschen ohne Arbeit und ohne Besitz. Ihr fremdes Zuhause war nichts als vier nackte Lehmwände unter einem Wellblechdach. Sie hatten sich aus dem Staube gemacht, aus Furcht vor Überfällen und vor Zwangsrekrutierungen ihrer Söhne in die Armee des »schwarzen Hahnes« Jonathan Savimbi, der bei der Befreiung von den Portugiesen der Wegbegleiter des Staatspräsidenten Eduardo dos Santos war.
Nach dem Sieg hatte der Geruch von Macht die einstigen Freunde entzweit, ihr Streben nach Vormacht in verschiedene Lager getrieben — zu Lasten der Menschen, für die sie Verantwortung zu tragen hätten.
Hier im Staub am Rand der Stadt fühlten sich die Menschen zwar sicherer als zu Hause auf ihrem Stück Land, das sie nährte. Versorgt und behütet waren sie hier keinesfalls. Die städtische Infrastruktur war für zwanzig-, vielleicht auch dreißigtausend Menschen ausgerichtet. Jetzt warteten hier über hunderttausend Menschen auf das Ende des längsten und mörderischsten Krieges auf diesem Kontinent.
Durch die Elendsviertel zu gehen, war uns seitens der DDR verboten. Es sei zu gefährlich, zu unübersichtlich. Das konnte jeder, der sich einmal darin verirrt hatte, guten Gewissens bestätigen.
Nun liefen wir auf einem Damm entlang, der noch die Reste des Schienenstranges einer Zubringerbahn trug. Das machte mich ruhig. Die Gleise würden irgendwo spitzwinkelig auf den Bahnhof treffen. Von da aus verlief die Asphaltstraße in Richtung Stadtmitte, an der das Laureano stand, das Haus, in dem die meisten DDR-Kooperanten wohnten und das noch immer den Namen seines portugiesischen Erbauers trug, wie viele Häuser in der Stadt.
Vom Damm aus konnte man über die notdürftigen Umfriedungen in die Höfe der Hoffnungslosen blicken. Die ärmlichen Behausungen aus Lehm und Gras hatten selten Türen. Die Eingänge waren mit Stofffetzen geschützt, bestenfalls diente am Abend ein Wellblechrest als Tür. Solche Bleche lehnten überall an den Hauswänden. Ihr Vibrieren begleitete mit schaurigen Klängen das dumpfe Schlagen der Stampfstöcke in die Getreidemörser. Vor jeder Hütte gab es eine Feuerstelle aus aufgeschichteten Steinen. Dort kohlten die Enden dicker Baumstämme oder zusammengesammelter Äste. Äxte oder Sägen besaß keiner hier.
Die Höfe waren sauber gefegt, aber Berge von Müll und stinkendem Unrat türmten sich ein paar Schritte entfernt an den Wegen. Magere, von nächtlichen Kämpfen zerschundene Hunde, Hühner und sogar Ziegen liefen frei herum und wühlten im Abfall nach Brauchbarem.
Je näher man der Stadt kam, sah man kleine Gartenflecken zwischen den Hütten, was von längerem Aufenthalt zeugte. Hier wie dort war die Zeit zu leben kurz bemessen worden, das einst erhoffte Kriegsende aber war schon lange verstrichen.
Dieser bairro erstreckte sich kilometerweit vom Rande des Stadtkerns bis zum Fuße des Tafelberges, und sogar an dessen Hängen klebten schon vereinzelt Behausungen, als hätte sie die vorzeitliche Sintflut dort hinauf gespült. Längs des schmalen Weges sahen die Höfe trist aber sauber aus, während weiter an der Peripherie Unrat und Dreck vorherrschten. Hinter einem üppigen Busch aus Zuckerrohr und Bambus blitze das seltene, halbrunde Gebilde eines Backofens aus Lehm hervor.
In dieser Zeit spürte man noch das Wachsen der Natur, ehe die jungen Pflanzen durch die schwirrende Hitze der Tage erstarren sollten, bis der Himmel ihnen wieder den Segen schickte, der ihr Siechtum für ein paar Wochen beendete.
Eine kleine Menschenansammlung zwang uns, einen Bogen um üppiges Gestrüpp zu schlagen. Da wo der Weg in einen kleinen Platz auslief, saßen ein paar Männer in ein Spiel mit Kieselsteinen vertieft. Die Runde wurde von Schaulustigen flankiert, die in ärmliche Kleider gehüllt waren. Die kleinen Kinder hüpften splitternackend dazwischen herum. Ein verkrüppelter Junge mit dem Körper eines ausgehungerten Gerippes schaukelte, nur auf seine übergroßen Hände gestützt, über den festgestampften, lehmigen Boden. Seine nackten Beine — zum ewigen Schneidersitz verschränkt — schimmerten wie Elfenbein, hell und knöchern. Das Muster der hingeworfenen Steine musste einen der mürrischen Alten in Trance versetzt haben. Seinem Mund entwichen unheimliche Worte, seine Hand deutete auf den Krüppel, der allem Anschein nach durch seine pure Anwesenheit zum Schuldigen für das Pech des Alten im Spiel erklärt wurde.
Wir liefen eiligst in angemessener Entfernung vorbei, in der Hoffnung, nicht Zeugen eines Unheils zu werden. Es kam vor, dass diese selbst ernannten Weisen in den vom Schicksal geplagten Wesen die Ursache irgendeines Unheils erkannten und sie dafür kollektiv bestraften.
Etliche Meter weiter, vor einer größeren Hütte, die über zwei Türen und einen Stall für Ziegen und Federvieh verfügte, saßen Halbwüchsige über Schnitzarbeiten gebeugt. Einer sprang auf und winkte uns zu, näher zu kommen, um etwas zu kaufen. Ein anderer Junge schnitzte ein Krokodil, das Arne gefiel. Obwohl er den Boss der Schnitzer hinter sich wusste, redete Arne nur mit dem Jungen. Der aber durfte nicht verhandeln, schien trotzdem sehr stolz über die unverhofften Worte des Fremden zu sein. Seine Augen blitzten noch weiß, wo das Weiß hingehörte, weil das giftige Gebräu des gujome seine Leber noch nicht zerfressen hatte. Der Mund des Jungen lächelte kindlich, samtig: Nein. Er habe noch nie ein Krokodil gesehen. Er arbeite nach, was sein patron gearbeitet habe, als er noch ein zé-ninguém war, wie er einer sei. Jetzt brauche der patron nicht mehr zu arbeiten. Er sprach mehr mit den Händen, die flink und geschickt zu hantieren gewohnt waren, als mit dem Mund, der immer wieder zu Lauten griff, die fremd klangen. Wir verstanden ihn dennoch. Krokodile, so meinte er, lebten im Wasser. Hier aber gäbe es kaum Wasser. Noch schlimmer sei es im Westen, nur trockene Flussbette