Wind über der Prärie. Regan Holdridge
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Читать онлайн книгу Wind über der Prärie - Regan Holdridge страница 19
Die Dunkelheit brach bereits über St. Louis herein. Er war hungrig und erschöpft und trotz des klammen, feuchten Wetters spürte er, wie seine Wangen glühten. Seine Finger schmerzten, er hatte sich mehrfach Nägel in die Haut gestochen und mit dem Hammer seine Glieder malträtiert. Er konnte wahrlich nicht behaupten, der geschickteste Handwerker zu sein, soviel er sich auch bemühte.
„Hier, Junge!“ Der Zahlmeister reichte ihm ein paar Dollarscheine. „Das ist für die Überstunden und die hervorragende Arbeit! Mach’ was Schönes damit!“
„Oh, danke!“ Hubert konnte es noch nicht recht glauben. Gut, er hatte in den zurückliegenden Tagen mehr als nur gerackert, aber dass er dafür einen extra Lohn erhalten würde... Er zählte die Dollarscheine, einmal, zweimal und überlegte. Das war sein eigenes Geld, mit dem er tun und lassen konnte, was er wollte, dass er nicht nach Hause bringen musste, zu seinem Vater, wie seinen regulären Lohn. Hubert überlegte eine ganze Weile. Musik drang an seine Ohren und er wusste, dass sie aus dem Saloon kam. Der Saloon. Er lächelte. Schon seit sie hier angekommen waren, wollte er dort hinein, wie die Cowboys und die anderen jungen Männer. Niemand würde ihn vorerst zu Hause vermissen, denn sein Dienst endete immer unterschiedlich und nie zu einer bestimmten Zeit, je nachdem, was an Arbeit anfiel. Sein Herz schlug schneller. Nun gut, sein Vater hatte ihm streng verboten, in den Saloon zu gehen, in diesen „Sündenpfuhl“, wie er ihn bezeichnete, doch Hubert konnte beim besten Willen keine Sünde daran entdecken, einfach hineinzuspazieren und ein Bier zu trinken. Das war nichts anderes, als wenn er in Deutschland eine Gastwirtschaft betreten hätte. Außerdem war er kein kleiner Junge mehr und allmählich konnte er wahrhaftig für sich selbst entscheiden, was er wollte.
Entschlossen marschierte Hubert die dunkle Hauptstraße hinab. Sein Hunger und die Erschöpfung waren vergessen. Viel zu aufgeregt und neugierig beschäftigte ihn jetzt das Unbekannte. Es hatte wieder wie aus Eimern zu gießen begonnen und er stieß die verschlossene Tür eilig auf. Verrauchte, stickige Luft schlug ihm entgegen. Der Saloon war voll mit Männern, die sich dicht um Tische und die Bar drängten. Eine Kapelle, die auf einem erhöhten Podest saß, spielte Melodien mit einem flotten Rhythmus, die er nicht kannte, doch sie gefielen ihm. Eine Sekunde stand Hubert unschlüssig da und beobachtete, was vor sich ging. Die meisten Männer saßen an Tischen, tranken und spielten mit Karten. Andere hatten junge, stark geschminkte Mädchen auf dem Schoß. Sie lachten und gröhlten und übertönten dabei die Musik. Hubert gab sich einen Ruck und trat an die brusthohe Theke. Der Rest, der keinen Platz fand, stand in Gruppen daneben, sie lachten und unterhielten sich in breitem, genuschelten Englisch, das er bisweilen immer noch schwer nur verstand.
„Ein Bier“, sagte er und fand, dass er sich bereits sehr amerikanisch anhörte.
Wortlos schob der Barkeeper ihm ein großes Glas entgegen und Hubert reichte ihm im Gegenzug einen seiner Scheine, woraufhin er ein paar Münzen zurückerhielt.
„Hallo!“, sagte eine tiefe, rauchige Frauenstimme neben ihm unerwartet und berührte ihn sanft am Arm. Hubert fuhr herum. Er schluckte. Neben ihm stand eine kleine, üppige Blondine, mindestens zehn Jahre älter als er und lächelte zu ihm hinauf. „Dich kenn’ ich ja noch gar nicht! Neu hier?“
„Ja...nur vorübergehend“, brachte Hubert überrumpelt hervor. Seine Augen glitten hastig ihren Körper hinab, der in einem engen Corsagenkleid steckte, das jedoch ihre Knie gerade noch bedeckte. Darunter trug sie Netzstrümpfe und Schnürstiefeletten mit hohem Absatz. Noch nie zuvor hatte er eine Frau gesehen, die sich in der Öffentlichkeit derart freizügig kleidete und er spürte, wie sein Puls schneller zu schlagen begann. Ihr Anblick löste unbekannte Gefühlswallungen in ihm aus, irgendetwas in ihm verlangte geradezu unwiderstehlich danach, sie zu berühren und sein Verstand sagte ihm gleichzeitig, dass er sich derartige Frechheiten nicht erlauben durfte. Sie arbeitete vermutlich hier und obwohl sie es sicherlich gewohnt war, von Männern betatscht zu werden, wollte er nicht riskieren, gleich bei seinem ersten Besuch in einem Saloon unangenehm aufzufallen. „Ich...ich gehöre zu einem der Siedlertrecks vor der Stadt.“
„Ah!“, machte die Blondine und ihr Lächeln wurde breiter. „Ich hab’ schon gehört, dass wieder ein paar angekommen sind. Ist ja nichts Neues, passiert ständig. Die einen kommen, die anderen gehen... Trotzdem immer schön, wenn fremde Gesichter sich hier rein verirren – vor allem, wenn sie so sympathisch sind, wie das deine!“
Geschmeichelt wiegte Hubert den Kopf. „Na ja, ich gebe mir Mühe, nicht zu abschreckend zu wirken.“
„Das tust du nicht“, versicherte die Lady, während sie ihn eingehend betrachtete, was Hubert nicht entging. „Ich heiße übrigens Suzie.“
„Freut mich. Mein Name ist Hubert Kleinfeld.“
„Deutscher, was?“, erkannte sie sofort. Sie streckte den Arm aus und berührte seinen Oberarm, wo sie unter seinem Hemd starke Muskeln fand. Das schien ihr zu gefallen. „Hmm, nicht übel!“
Er gab sich gleichgültig. „Das kommt vom vielen Bretter durch die Gegend wuchten. Die Eisenbahn scheint nur damit beschäftigt zu sein, irgendwo irgendetwas anbauen zu müssen.“
„Sag mal, Hugh...“ Sie sprach seinen Namen ganz automatisch und ohne nachzudenken in seiner englischen Form aus, doch es gefiel ihm. Überhaupt, nicht nur, wie sie seinen Namen sprach, auch sie selbst wirkte ungeheuer anziehend auf ihn, je länger er sich mit ihr unterhielt. „Es macht dir doch nichts, dass ich Hugh sage, oder? Das ist viel einfacher für mich, ich kann nämlich nur Englisch und Ungarisch.“
„Nein“, erwiderte er und lächelte zu ihr hinab. „Im Gegenteil! Es gefällt mir!“
„Schön!“ Sie beugte sich zu ihm hinüber und gewährte ihm einen tiefen Einblick in ihr üppiges Dekolleté. „Hast du nicht Lust, ein bisschen mit mir nach oben zu kommen?“
Hubert schluckte. Sein Herzschlag setzte einen Moment aus. Er begriff. Mit einem Mal erkannte er, was sie war und dass es keine Rolle spielte, wenn er sie anfasste. Sein Vater hatte es ihm erklärt, ihn in seiner sachlichen, nüchternen Art eines Morgens darüber unterrichtet, wie Kinder zustandekamen und dass dieses „Geschehen“ außerhalb der Ehegemeinschaft absolut verboten und sündhaft sei. Vermutlich hätte Friedrich nie ein Wort darüber gegenüber seinem Sohn verloren, wenn...ja, wenn er nicht an einem Morgen aufgewacht wäre und festgestellt hätte, dass etwas anders war, ganz anders, dass sein Körper etwas mit ihm gemacht hatte, das er nicht begriff und von dem er nicht wusste, warum es geschah. Friedrich hatte ihn darüber aufgeklärt, dass er nun „ein richtiger Mann“ sei, der die Pflicht hätte, „sich zusammenzureißen und der Fleischeslust niemals die Überhand gewinnen zu lassen“. Lange hatte Hubert darüber nachgedacht, was sein Vater damit wohl meinte, mit dem Wort Fleischeslust. Dann hatte er ihn gefragt und Friedrich hatte ihm streng und sehr entschieden erklärt, dass jegliche Tätigkeit dieser Art außerhalb einer ehelichen Beziehung nicht vor Gott und der Kirche vertretbar sei, ja, dass es sich geradezu um eine Sünde handele, die bestraft werden müsste. Allerdings hatte Hubert diese Erläuterung auch nicht viel geholfen. Erst dank einem seiner Kumpel in Deutschland, der da wesentlich erfahrener schon war, hatte er alles darüber erfahren, was sich zwischen Mann und Frau so abspielte und dass es Damen gab, die damit ihren Lebensunterhalt verdienten.
Hubert atmete tief durch. Er war jetzt achtzehn und durchaus fähig, eigene Entscheidungen zu treffen. Sein Vater würde ihn vermutlich erschlagen, wenn er wüsste, was er hier trieb, dass er im Saloon stand, ein Bier trank und sich mit einer Frau namens Suzie unterhielt, die für Geld ihren Körper an Männer verkaufte, die sich nach weiblicher Begleitung sehnten.